Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Hässlichste im ganzen Land? Dysmorphophobie und ihre Erscheinungsbilder

Eine junge, langhaarige Frau mit Dysmorphophobie lehnt sich mit Gesicht und Hand an ein Fenster, in dem ihr Spiegelbild zu sehen ist

Die Begriffe Dysmorphophobie oder auch körperdysmorphe Störung (kurz: KDS) beschreiben eine psychische Störung, bei der Betroffene einzelne oder mehrere Teile ihres Körpers als entstellenden Makel wahrnehmen. Schätzungsweise 2% aller Menschen leiden darunter. Aber woher kommt das, wie genau äußert sich das und was kann man dagegen tun?

Dysmorphophobie: unentdeckte Krankheit mit vielen “Gesichtern”

Ich stehe unter der Dusche. Duschen ist für mich immer eine besonders schwierige Angelegenheit. Nicht weil ich das Duschen an sich nicht mag, sondern weil ich meinen Körper nicht mag. Weil ich meine Beine nicht mag. Ich verübe jeden Tag einen großen Hickhack bei der Körperwäsche – nur damit ich meine Beine nicht spüren muss. Beim Einseifen starre ich entweder an die Decke oder kneife meine Augen feste zusammen, denn so bekomme ich nur das notwendig Mindeste von meinen Beinen mit.

Menschen mit KDS sind zunächst einmal ganz normale Menschen mit kleinen Makeln, wie sie jede*r hat. Der*die eine mag eine etwas größere Nase haben, der nächste etwas kräftigere Beine und die dritte vielleicht ein etwas stärker ausgeprägtes Kinn. Eigentlich keine Gründe, sich sozial zurückzuziehen und in angstvollem Leiden zuhause zu erstarren. Was für die anderen Menschen von außen allerdings nur wenig von Bedeutung ist oder sogar kaum auffällt, ist für die Betroffenen dieser Krankheit wie ein hässliches Tattoo mitten auf der Stirn.

Die von der Dysmorphophobie Betroffenen sehen ihre Makel an Körper und Gesicht in vielfacher Verstärkung und fühlen sich deswegen entstellt.

Unübersehbar und man bekommt es nicht weg – und wenn, dann nur unter Schmerzen. Die von der Dysmorphophobie Betroffenen sehen ihre Makel an Körper und Gesicht in vielfacher Verstärkung und fühlen sich deswegen entstellt. Das behindert ihren Alltag teilweise so sehr, dass sie sich nicht mehr unter Menschen trauen, ihre Berufe nicht ausführen können und mehrere Stunden am Tag versuchen, den Makel auf irgendeine Art und Weise zu beseitigen.

Bei vielen ist die Entstellungsangst sogar so groß, dass sie in suizidale Gedanken verfallen: Fast 70% der KDS-erkrankten denken mindestens einmal an Suizid. Das hat nichts mit Eitelkeit zu tun, das ist ernst.

Bin ich hässlich – oder nur krank? Und was ist besser?

Nach der Dusche halte ich die Augen fest geschlossen und greife blind in Richtung meines Handtuchs. Nur nicht in den Spiegel gucken. Den Move habe ich trainiert, weil ich das schon seit locker drei Jahren so mache. Richtig schwierig wird es nur in fremden Badezimmern, zum Beispiel im Hotel, wenn der Spiegel ganz woanders hängt. Ich öffne meine Augen erst, wenn ich meinen Körper von der Brust abwärts in ein Handtuch eingewickelt habe. Erst dann bin ich bereit, in den Spiegel zu sehen und mich mit mir – zumindest meinem Gesicht – auseinanderzusetzen.

Die meisten Dysmorphophobiker*innen haben Probleme mit ihrem Gesicht. Eine zu große Nase, ein fliehendes Kinn, eine als übertrieben uneben wahrgenommene Hautbeschaffenheit und dergleichen. Aber auch andere Körperteile können in den Fokus geraten: Beine, Arme, Finger.

Charakteristisch für diese Wahrnehmungsstörung sind entweder exzessive Beschäftigung mit dem Makel, wie ständiges Betasten und Herumzupfen an der entsprechenden Körperpartie oder eine extreme Vermeidungstechnik, bei der man den Blick in den Spiegel, Schaufenster und jedwede andere Konfrontation mit der vermeintlichen Schwachstelle umgehen möchte. Beide Techniken im Umgang mit dem Makel sind symptomatisch und sollen in der Wahrnehmung der Betroffenen für weniger Angst vor demselben führen. Tatsächlich wird es dadurch meist noch schlimmer.

Die Krankheit ist, obwohl man von einer hohen Dunkelziffer an Betroffenen ausgeht, noch nicht besonders bekannt.

Welche Bevölkerungsgruppe wann und aus welchen Gründen genau am stärksten anfällig für Dysmorphophobie ist, konnte die Forschung bislang noch nicht mit Sicherheit herausfinden. Denn die Krankheit ist, obwohl man von einer hohen Dunkelziffer an Betroffenen ausgeht, noch nicht besonders bekannt. Wie bei vielen anderen mentalen Störungen, wie zum Beispiel dem Skin Picking, tritt sie jedoch in 80% der Fälle zum ersten Mal während der Pubertät auf und hält durchschnittlich chronisch bis zu 16 Jahren an.

Mögliche Ursachen für eine KDS können neben biologischen Prädispositionen (wie einer Störung im Serotoninhaushalt) in der Kindheit liegen: in übertriebener Behütung durch die Eltern oder in häufiger Erfahrung von Ablehnung. Auch die Vermittlung von Werten könnte eine Rolle spielen, besonders wenn innerhalb der Familie besonders viel Wert auf Aussehen und Erscheinungsbild gelegt wurde/wird.

Menschen mit einer körperdysmorphen Störung können und wollen sich mit ihrem Äußeren nicht abfinden. Deswegen sind chirurgische Eingriffe bei den Dymorphophobiker*innen zwar sehr populär, führen aber nur sehr selten bis nie zum gewünschten Ergebnis.

Ich sehe was, das du nicht siehst …. und das ist hässlich

Mein Freund sagt, er findet meine Beine schön und schlank. Und er sagt, dass die Haut an meinen Schenkeln auch sehr glatt sei. Aber wenn ich in den Spiegel schaue, dann sehe ich zwei völlig unproportional zum Rest meines Körpers geformte Beine. Viel zu viel Bein. Zu viele Dellen, kein Stück glatte Oberfläche. Manchmal versucht er mich zu trösten – damit, dass es ganz perfekte Menschen gar nicht gebe, das sähe man nur bearbeitet in den Medien.

Aber ich sehe die perfekten Frauen da draußen jeden Tag. Mit ihren schlanken Beinen. Und ich sehe mich und meine Beine und die Dellen, die ich habe, und ich frage mich, wie ich so sehr etwas anderes im Spiegel sehen kann als er. 

Viele Leute finden erst durch gezielte Recherche zu ihren Symptomen heraus, dass sie nicht verrückt sind – sondern tatsächlich an einer Wahrnehmungsstörung leiden. Wer hadert auch nicht mindestens einmal die Woche mit seinem Aussehen? Wessen eigenes Körperbild stimmt denn wirklich mit dem Idealbild überein? Das sind auch neben der Scham der Betroffenen die Gründe dafür, dass die Krankheit selbst von Psycholog*innen und Psychiater*innen nicht selten undiagnostiziert bleibt.

Die Betroffenen sind in der Regel recht attraktiv, nehmen sich selbst aber nicht so wahr.

Dabei sind die die Betroffenen in der Regel recht attraktiv, nehmen sich aber selbst nicht so wahr. Sie verfügen zudem meist über ein sehr stark ausgeprägtes Empfinden für ästhetische Proportionen und empfinden selbst die kleinsten Abweichungen vom Regelfall als extrem. Selbsthilfegruppen gibt es aufgrund der seltenen Diagnostizierung leider kaum. Allerdings können Betroffene den Umgang mit ihrem Aussehen neu erlernen:

In einer kognitiven Verhaltenstherapie kann den meisten Menschen mit dieser Erkrankung geholfen werden, ihr Äußeres anders zu bewerten und vor allen Dingen, den Selbstwert von anderen Qualitäten als dem Erscheinungsbild abhängig zu machen.

Wenn du Das Gefühl hast, selbst unter Dysmorphophobie zu leiden oder jemanden kennst, bei dem das der Fall sein könnte, kannst du dich hier über die Krankheit, ihre Symptomatik und mögliche Therapieansätze informieren.

Headerfoto: Stockfoto von Benevolente82/Shutterstock. („Wahrheit oder Licht“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

LINDA hat an Heiligabend Geburtstag, kommt aus dem Rheinland, ist aber im Herzen Hamburgerin. Sie hat Literatur in Bonn und Hamburg studiert und mit einer Arbeit über die Liebe abgeschlossen. Für die Liebe ist sie auch nach Berlin gezogen. Bei im gegenteil liest sie deswegen auch Liebesbriefe und sorgt dafür, dass diese hübsch gemacht sind für dieses Internetz.

4 Comments

  • Hallo, ich bin 23 Jahre alt und leide seit etwa 10 Jahren an meiner körperdysmorphen Störung und anderen psychischen Krankheiten, die alle ineinandergreifen. Ich bin seit 2015 in Behandlung, kann nicht arbeiten, nicht normal leben und während gefühlt kein Außenstehender mich wirklich ernst nehmen könnte, da es nur mein Aussehen ist, kämpfe ich mit Selbstmordgedanken. Ich fantasiere ständig darüber meinem Körper das anzutun, was er mir all die Jahre antut. Ich will ihn leiden sehen, ich will ihn aufschneiden, verbrennen, verätzen und vereisen. Ich kann ihn nicht mehr sehen.
    Keine Worte können beschreiben. wie ich über mein Aussehen denke.
    Fakt ist: Das bin ich nicht mehr. Personen, die mir nahe stehen, erkennen mich seit einigen Wochen auch nicht mehr (nicht optisch, sondern charakterlich). Ich bin mir mittlerweile sicher, dass mein Äußeres von Innen heraus zur Krankheit mutiert. Es kann nicht sein, dass sowas auf natürlichem Wege entstehen kann.
    Ich bin mir nicht sicher, wie es mit mir weitergeht und wann es enden wird. Ich gebe mir so viel Mühe, meine Familie und Freunde verzweifeln. Ich will nicht weiter ins Detail gehen.
    Es klingt lächerlich, aber diese Krankheit tötet mich.
    Was die Psyche uns nicht alles einreden kann, nur um uns zu töten.
    Ich wollte jahrelang nicht glauben, dass ich wirklich „krank“ bin. Dabei können psychische Krankheiten genauso tödlich sein wie körperliche Krankheiten.
    Dennoch erwarten die Gesellschaft und die Behörden von mir (und anderen Betroffenen), dass ich so lebe als wär ich gesund. Es geht nicht.

  • Dieser Artikel spricht mir aus der Seele. Ich habe erst vor kurzem die KDS Diagnose bekommen. Habe eine super gescheite Psychologin, zu der ich wegen beinah täglicher Migräne, Depressionen und Eheproblemen gekommen bin. Alles in allem sind die anfänglichen Probleme nur die Begleitsympthome der KDS. Ich habe in den letzten Wochen so viel über mich selbst gelernt. Mein größtes Problem ist die KDS und der darüber der Ekel über mein Lipödem Stadium 2. Danke für diesen Artikel, es hilft zu wissen, dass man sich das alles nicht einbildet, da die Umwelt meine Probleme klein redet und mir sagt, dass alles gar nicht so schlimm sei und es vielen anderen viel schlechter geht…

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