Ich sitze im ICE, der Zug rollt in Schrittgeschwindigkeit in Richtung Ziel. Er rollt langsamer als gewöhnlich und fährt nicht die gewohnte Strecke. Umleitung aufgrund von Baumaßnahmen. Die Schienen müssen erneuert werden, damit der Zug auch in Zukunft verlässlich am Ziel ankommen kann.
Mein Handy vibriert. Es ist die Antwort einer Freundin. Ihr habe ich heute Mittag, zwischen Meetings und Regenschauern, folgende Gedanken geschickt:
Mein Kopf ist so durcheinander. Ich frage mich: Ist es richtig, was ich mache? Dass ich Abstand zu ihm halte. Ja, es ist erwachsen und aktuell gesünder. Aber ich will etwas anderes. Ist es richtig, dass er davon überhaupt keinen Schimmer hat? Dass ich mich verhalte, als wäre ich okay damit? Es kann ja auch sein, dass er gar keine Chance für uns sieht oder sehen will. Aber wenn es am Ende bedeutet, es einfach nicht ausgesprochen zu haben, zum Schutz meiner „Gesundheit“ aber gegen mein Gefühl – ist das sinnvoll?
Und so lande ich einmal mehr, während der ICE weiterhin in Schrittgeschwindigkeit fährt, bei mir und somit auch bei ihm. Das geht so nun schon eine ganze Weile so, Umleitung wegen Baumaßnahmen in meinem Kopf. Das Ziel bleibt, mal mehr, mal weniger: gesund sein, das Leben und mich gerne haben.
Letzten Sommer, da warst du auf einmal da.
Für mich ging das alles verdammt schnell, ich wusste gar nicht, wie es um mich geschieht. So viel Liebe in so kurzer Zeit von dir. Wie ist das möglich? Das habe ich vorher noch nicht erlebt. Wie kannst du dir so sicher sein, dass ich es bin?
Wir waren euphorisch, voller Tatendrang, wir sprudelten über vor gemeinsamen Ideen. Wir buchten Urlaube, entdeckten gemeinsam Sportarten und ich lernte deine Eltern und Freund:innen kennen. Du warst der Sprinter unter den ICE-Verbindungen.
Meine Eltern kennst du nicht. Meine Freund:innen hast du nur zufällig mal getroffen. Zu groß war meine Angst, dass ich ihnen später berichten muss, dass du dich anders entschieden hast, dass du dich getäuscht hast in mir. Dass deine Euphorie verflogen ist, als du meine dunklen Flecken in den tiefsten Ecken gefunden hast. Dass du festgestellt hast, dass ich manchmal weniger Sprinter und mehr Baumaßnahme auf einzelnen Streckenabschnitten bin.
Zu groß war meine Angst, dass ich ihnen später berichten muss, dass du dich anders entschieden hast, dass du dich getäuscht hast in mir.
Und so kam es dann auch. Jetzt sitze ich hier, mit Schrittgeschwindigkeit, in einer Umleitung. Ich musste vor einigen Wochen die Notbremse ziehen. Ich war im Begriff, mein Ziel zu verlieren: gesund sein, das Leben und mich gerne haben. Die Notbremse kam unerwartet, für dich und auch für mich. Aber wenn ich etwas in den letzten Jahren gelernt habe, dann dass nur ich selbst die Dinge ändern kann und für mein Glück verantwortlich bin.
Als Kind habe ich bei Autofahrten durch lange Tunnel immer die Augen zugekniffen. Ich hatte Angst im Dunkeln, aber ich musste mich der Situation ausliefern, also Augen zu und durch. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich so gehandelt, bis ich irgendwann erkennen musste, dass das Leben ganz schön anstrengend und dunkel ist, wenn man mit seinen Ängsten alleine ist und Situationen einfach aushält, obwohl man sich nicht wohl damit fühlt.
Augen auf!
Im Laufe der Jahre habe ich diese Verhaltensweise perfektioniert und auf fast alle Lebenslagen angewandt: Augen zu und durch. Ignorier es! Reiß dich zusammen! Aber was macht es mit einem, wenn man Angst oder Unsicherheit mit viel Energie für sich behält? Man ist ständig in Alarmbereitschaft, angespannt und auch einsam.
Und so ist es zu meiner Notbremsung gekommen. Augen zu und durch, das ging nicht mehr. Die Unsicherheit war zu groß und das Licht am Ende des Tunnels erschien mir unerreichbar. Also zog ich sie, in Panik: Die Notbremse. Unser Zug blieb stehen.
Zu sehr war ich darauf fokussiert, auf deinen Schienen fahren zu müssen.
Ein heftiger Ruck bei voller Fahrt war nötig, um sicher zu gehen, dass das Ziel für mich noch erreichbar war: gesund sein, das Leben und mich gerne haben. Erst einmal allein. Zu sehr war ich darauf fokussiert, auf deinen Schienen fahren zu müssen. Koste es, was es wolle. Koste es mich das Erreichen meines eigenen Zieles: glücklich sein, das Leben und mich gerne haben.
Gefühlt hatte ich keine Wahl als so zu handeln. Heute weiß ich, dass ich mich in diesem Moment ganz klar für mich entschieden habe und mein Gefühl kein Muss sondern ein Wollen war. Ich wollte mein Ziel nicht verlieren, also musste ich sie ziehen, die Notbremse. Eine starke Entscheidung, die so vor ein paar Jahren noch nicht möglich gewesen wäre.
Meine Entscheidung war erwachsen.
Dass sie in diesem Augenblick richtig war, das wusste ich sofort. Dass sie nicht einfach sein würde, das fühlte ich sofort. Nun ist einige Zeit nach dem Ziehen meiner Notbremse vergangen und eine Frage ist stehen geblieben: wie viel erwachsen ist gesund?
Wir alle haben ihn in uns, den erwachsenen Anteil. Dieser Anteil sorgt dafür, dass wir in der Lage sind, die Verantwortung für unser Glück und unsere Zufriedenheit im Leben selbst zu übernehmen. Das innere Kind steht für die Prägungen aus unserer Kindheit. Es speichert unsere negativen Glaubenssätze und belastenden Gefühle ab und beeinflusst unterbewusst unsere Entscheidungen, Emotionen und Ängste. Mein inneres Kind war durch die gemeinsame Zugfahrt im Dauereinsatz. Ich musste meinem inneren Kind wieder auf die Beine helfen, also entschied ich mich, meinem Erwachsenen die Kontrolle zu geben.
Ich musste meinem inneren Kind wieder auf die Beine helfen, also entschied ich mich, meinem Erwachsenen die Kontrolle zu geben.
Es war gesund, so zu handeln. Die Notbremse zu ziehen. Zu sehr war mein inneres Kind verunsichert und vom Fahrplan abgekommen. Und so komme ich meiner Antwort auf meine Frage, wie viel erwachsen gesund ist, näher: ich habe durch meine Notbremse einen Totalschaden verhindert, bei dem ich den Kürzeren gezogen hätte. Wäre ich geübter gewesen, dann bin ich sicher, hätte es nicht so weit kommen müssen. Eine Notbremse kommt erst dann zum Einsatz, wenn Bremsen oder Umfahren unmöglich ist, weil man kurz vorm Aufprall steht.
Wäre ich geübter gewesen, hätte ich mich und meine Bedürfnisse besser verstanden und diese im Zweifel in meinen Fokus gerückt. Vielleicht wären wir mehr mein Tempo gefahren, vielleicht hätten sich unsere Wege schneller getrennt, vielleicht auch nicht.
Die Notbremse habe ich wieder losgelassen. Fahren will ich in Zukunft ohne.
Headerfoto: Stockfoto von Eugenio Marongiu/Shutterstock. („Gedankenspiel“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!
Selten hat ein Text so haargenau meine Situation und Empfindung beschrieben und das Chaos in meinem Kopf in Worte gefasst. Vielen Dank dafür! Auch ich habe mich für meine eigenen Schienen entschieden. Gegen das Herz aber trotzdem für mich.
Ist es denn aber richtig, sich gegen das Herz zu entscheiden? Muss man nicht manchmal auch etwas riskieren und sich der Angst stellen, als die Notbremse zu ziehen und lieber auf seinen gewohnten Schienen, in seiner Komfortzone, zu bleiben?