„Gönnen wir uns heute Abend doch eine köstliche Portion Sushi, trinken dabei ein gutes Glas Weißwein und philosophieren über das Leben – einfach herrlich die Arbeitswoche ausklingen lassen, was meinst du?“ „Ja! Und morgen gehen wir zum Sport, danach gibt’s ein gemütliches Käffchen in der Sonne, anschließend radeln wir auf die andere Seite der Alster zum Flohmarkt, trinken eine weitere Tasse Kaffee und lassen uns von unserer Umgebung spontan zu weiteren Vorhaben inspirieren!“
Die Euphorie verschwindet urplötzlich, die Energieströme fließen ins Nichts und die Enttäuschung ist groß.
Und so lange ich mich schon in den kommenden Abend und nächsten Tag hineinversetze, mich auf die spannenden zu erlebenden Dinge freue und meine Energie vom Schopf bis zu den Sohlen meiner Füße fließt, so plötzlich wird die Tür zum Abenteuerland auch wieder verschlossen. Von jetzt auf gleich. Die Euphorie verschwindet urplötzlich, die Energieströme fließen ins Nichts und die Enttäuschung ist groß. Der Umschwung kommt binnen Minuten, aus Vorfreude wird ein Seufzer und die Enttäuschung wächst zu Wut.
Meine Freundin bekommt einen Schub. Der Tatendrang bleibt. Die Unzufriedenheit wächst. Warum kann ich nicht selbstbestimmt leben? Wieso macht mir mein Selbst immer wieder einen Strich durch die Rechnung?
Ihr Körper macht nicht das, was ihr Kopf sagt oder ihr Herz möchte.
Meine liebe Freundin ist chronisch krank. Ihre Krankheit kann man zwar einigermaßen in den Griff bekommen, heilen jedoch nicht. Ihr Körper macht nicht das, was ihr Kopf sagt oder ihr Herz möchte. Grade bei einem solchen Energiebündel wie ihr wächst der Frust schnell zu einem gigantischen Erzfeind, der nicht besiegt werden kann. Sie möchte, er nicht.
Sie will laufen, rennen, sich bewegen, bis zur Erschöpfung auf den Boxsack einschlagen und ihren Körper immer wieder Extremen aussetzen, ihren starken Willen beweisen und auf der anderen Seite Herzlichkeit versprühen, hilfsbereit sein und treu ergeben ihren Liebsten ein Ohr widmen, für sie da sein und trotz Erschöpfung von der Arbeitswoche weiter Energie für schöne Erlebnisse aufwenden. Einfach leben, in jeder Minute, tagein tagaus.
In der Umkleidekabine habe ich schnell ihre andere Seite kennengelernt.
Als ein so leistungsorientiertes, übersportliches Energiebündel hat sie mich damals ans Boxen herangeführt. Mir mit viel Schweiß und Muße Techniken gezeigt und mich stets mitgezogen, motiviert, sodass auch ich schnell austeilen konnte. In der Umkleidekabine habe ich schnell ihre andere Seite kennengelernt, die durch Warmherzigkeit, Ehrlichkeit, eine positive Einstellung, Lebenslust und einem permanenten Lächeln geprägt ist.
Und so gruben wir uns Stück für Stück durch zu einer tieferen Gesprächsebene, wurden schnell vertraut und wussten nach einiger Zeit, dass wir einander von großem freundschaftlichen Wert sind. Parallel wuchs unsere Freundschaft durch verschiedenste Aktivitäten außerhalb des Sports, die unsere Leben bereicherten – wahrhaftig eine Freundin zum Pferde stehlen!
Und dann kam eines Tages der Schlag, dessen Wucht sich erst über die Zeit abzeichnete.
Die Rede ist von Morbus Chron. Eine schleichende Krankheit, die die Energie von Tag zu Tag ein wenig mehr schrumpfen lässt, die den/die Beteiligte*n spüren lässt, dass der Kopf, die mentale Stärke ohne den Körper nichts ist. Egal, wie gefestigt das Mindset ist, wenn der Körper nicht darauf hört ist das Ergebnis: hilflos gefangen sein in einem nicht vollständig funktionierenden Körper.
Getrieben von deiner Wut und der Verzweiflung, weil alles nichts bringt, was du gegen deine Krankheit unternimmst, entfernst du dich jeden Tag ein Stückchen mehr von dir selbst.
Das Pendel schlägt um. Und während du immer müder wirst, werden auch deine Verabredungen weniger, deine Aktivitäten werden weniger, deine Kraft schwindet, dein Boxschlag wird schlaffer, dein Freiheitsdrang umso größer. Du willst aufspringen, wegrennen und einfach so sein, wie du dein Leben lang warst. Deine Wut steigt, weil du jeden Tag gegen dich selbst kämpfen musst. Allmählich zerreißt es dich innerlich. Du bist nicht mehr eins. Getrieben von deiner Wut und der Verzweiflung, weil alles nichts bringt, was du gegen deine Krankheit unternimmst, entfernst du dich jeden Tag ein Stückchen mehr von dir selbst.
In der einen Sekunde willst du schreien, alles rauslassen, in der nächsten Minute willst du weinen, alles herausspülen und wieder wegrennen, Energie rauslassen. Einfach weg von all dem.
Auch mich erschüttert deine Ohnmacht schwer. Gerade lieb gewonnen als Freundin zum Pferde stehlen, unermüdlich das Leben in vollen Zügen genießend, trifft auch mich der Rückschlag, jeden Tag ein kleines Stückchen mehr. Hier und da werden unsere Pläne durch Schübe durchkreuzt, der Plan für den morgigen Abend wird vernichtet und ein anderes Vorhaben wird mal wieder verschoben.
Du würdest so gerne, kannst aber nicht.
Na klar, du kannst nicht anders, deine Energie lässt es nicht zu, ich weiß genau, du würdest so gerne, kannst aber nicht. Das lässt auch in mir die Wut tief im Inneren brodeln. Tausende Gedanken durchfluten meinen Kopf. Ich nehme die Veränderungen wahr, optisch wie zwischenmenschlich, ein unaufhaltsamer Prozess.
„Aber hey, lass alles raus, deine ganze Wut, deine Verzweiflung, dein Argwohn, deine Unzufriedenheit, dass du nicht selbstbestimmt leben kannst!“, fordere ich dich bei jedem unserer Treffen auf – wohlgemerkt war mir der Boxsack eine große Hilfe. Und so legte ich dir stets nah, dass ich immer für dich da bin, egal, was kommt – ob du motivierende Worte beim Sport brauchst, ein offenes Ohr für deine Sorgen oder einen Taxianruf, der dich zu wildesten Uhrzeiten zum zuständigen Arzt brachte.
Nach dem Realisieren steht uns die schwerste Aufgabe noch bevor: Akzeptanz.
Ich habe Angst, Angst davor, dass nach dem langsamen Bergab nur noch ein Tal auf uns wartet, der Weg bergauf aber ausbleibt. Das Schwinden der Kraft symbolisiert die Ohnmacht, die uns umgibt. Nach dem Realisieren steht uns die schwerste Aufgabe noch bevor: Akzeptanz.
Aber es gibt einen Lichtblick: Nach der Phase des Warums, der Wut, der Trauer, über die Spanne der Akzeptanz hinweg geht es doch wieder ein Stückchen bergauf – und zwar dann, wenn du dir vor Augen führst, was dich mental stark macht. Schließlich definierst du dich nicht nur über deinen energetischen Körper sondern entdeckst, dass dich darüber hinaus noch viel mehr ausmacht und dass dich deine Liebsten genau wegen dieser vielen anderen Eigenschaften so gern haben.
Die Zukunft können wir nicht voraussehen.
Ich habe mir viele viele Gedanken und Sorgen um dich gemacht, was passieren könnte und wo wir in ein paar Jahren stehen könnten. Alles Unsinn – das Wichtigste ist, dass wir so viele schöne Momente gemeinsam erleben, wie wir nur können. Die Zukunft können wir nicht voraussehen. Alles was ich weiß ist, dass du eine Kämpferin bist. Und diese Gewissheit lässt mich ein wenig Erleichterung verspüren, mich aufatmen und schließlich lächeln, weil wir noch so viel zu erleben haben werden.
Headerfoto: Analise Benevides via Unsplash. („Wahrheit oder Licht“-Button hinzugefügt, Bild gecroppt.) Danke dafür!