Alkoholismus in der Familie – mein Leben mit einer kranken Mutter

Welches Bild habt ihr im Kopf, wenn ihr an eine:n Alkoholiker:in denkt? Vermutlich seht ihr gerade vor eurem geistigen Auge den langhaarigen, ungewaschenen Obdachlosen unter der Brücke und mit der Korn-Flasche in der Hand oder einen schwitzenden Mann im Unterhemd in seiner Sozialbau-Wohnung, der seine Frau vermöbelt und der allseits gefürchtete Nachbarsschreck ist.

Und mich wundert das, um ehrlich zu sein, auch nicht, denn lange hatte ich selbst auch genau diese Klischee-Bilder im Kopf. Ich dachte: Alkoholismus ist eine Krankheit, die doch eh nur faule, arbeitslose Sozialschmarotzer betrifft – oder eben Menschen auf der Straße.

Alkoholiker:innen, Süchtige im Allgemeinen, waren in meiner heilen Kinderwelt Leute, von denen man sich dringend fernhalten musste. Sie waren potenziell gefährliche Menschen und mit Sicherheit nicht ganz richtig im Kopf.

Eines Tages wurde ich eines Besseren belehrt – und das auf die harte Tour.

Doch eines Tages wurde ich eines Besseren belehrt – und das auf die harte Tour. Ich kam gerade vom Einkaufen nach Hause; meine Schwester und ich hatten unserer Mutter diese Aufgabe abgenommen, weil sie schon seit Tagen mit Magenschmerzen auf der Couch lag, sich kaum bewegen konnte und auch kaum noch etwas aß.

Als wir sie am selben Nachmittag noch aufgrund einer – wie ich dachte – Gallenkolik mit Blaulicht ins Krankenhaus bringen mussten, gingen mir Lichter auf, nach deren Anknipsen es mir unbegreiflich erschien, wie wir alle – unsere gesamte Familie – so lange so blind gewesen sein konnten.

Niemand hatte es bemerkt.

Ich hatte mir nie vorstellen können, meine Mutter so zu sehen und ich hatte mir ebenfalls nie vorstellen können, dass sie Alkoholikerin sein könnte. Bis die Notärztin uns eröffnete, dass sie bei Einlieferung 4,0 Promille im Blut hatte.

Diese Nachricht veränderte meine komplette Sicht auf die letzten Jahre. Meine Mutter hatte immer Wein und Sekt auf Vorrat gehabt, viele von ihren Freundinnen kamen schon mittags zu Besuch. Und Männerprobleme wurden grundsätzlich mit Bacchus Unterstützung besprochen. Doch niemals hatte ich meine Mutter betrunken erlebt. Oder auch nur angetrunken.

Alkohol gehörte bei Gesellschaft für mich sehr lange einfach dazu; als Kind habe ich das Trinkverhalten meiner Eltern nie hinterfragt.

Alkohol gehörte bei Gesellschaft für mich sehr lange einfach dazu; als Kind habe ich das Trinkverhalten meiner Eltern nie hinterfragt und erst seit der Stellungnahme der Ärztin in der Notaufnahme war mir klar, dass da etwas nicht stimmen konnte. Dass da etwas jahrelang nicht gestimmt haben konnte. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen und erklärte beinahe sämtliche Streitereien der mindestens letzten drei Jahre.

Um das vorauszuschicken: Meine Mutter war nie gewalttätig mir oder meiner Schwester gegenüber. Ich hatte eine schöne Kindheit und es hat mir nie an etwas gefehlt. Und auch wenn meine Mutter die Strenge bei uns zuhause war – im Gegensatz zu meinem Vater –­, kamen wir als Familie alle sehr gut miteinander aus.

Plötzlich ergaben all die merkwürdigen Verhaltensmuster meiner Mutter Sinn.

Doch mit den Jahren wurden Wesensveränderungen meiner Mutter bemerkbar, die sich nicht mehr mit der Strenge einer sich sorgenden Mutter erklären ließen. Mein Vater pflegte die Streitigkeiten zwischen ihr und mir damit zu begründen, dass wir beide uns so ähnlich seien, da geriete man eben öfter aneinander.

Aber mir fiel auf, dass meine Mutter phasenweise eine völlig andere Person war als sonst. Und das hatte nichts mit meiner Pubertät, ihrem Alter oder unserer Ähnlichkeit zu tun.

Dass sie krank war und dringend Hilfe brauchte, fanden wir erst nach jenem Nachmittag auf der Intensivstation heraus.

Dass sie krank war und dringend Hilfe brauchte, fanden wir erst nach jenem Nachmittag auf der Intensivstation heraus. Und auch, dass der Alkohol nicht das ursprüngliche Problem war, sondern die Folge einer tiefen Traurigkeit, die meine Mutter schon ewig mit sich herumgetragen haben musste.

Alkoholismus ist selten der Anfang, sondern meistens das Ende vom Lied. Depressionen und Ängste, seien sie nun aus akuten Anlässen entstanden oder genetisch bedingt, gehen oft mit dem Problem einher oder sind des Übels Wurzel. Und wenn man sich mal in der Gesellschaft umsieht, wird einem klar, wie schwierig es ist, seine Probleme NICHT mit Alkohol oder Drogen zu bekämpfen.

Weg mit dem Tabu, her mit den Gesprächen!

Immer und überall trinken Erwachsene und auch Jugendliche Alkohol, um zu entspannen, die stressige Arbeit zu vergessen oder die Probleme mit dem Freund, der Freundin, der Familie. Der Gang zum:zur Therapeut:in hingegen erscheint den meisten wie das Tragen eines scharlachroten Buchstaben auf der Brust. S, wie schwach oder G, wie gestört.

Und auch zum Gesellschaftsleben gehört Alkohol nach wie vor oder vielleicht stärker denn je dazu. Wenn man bei einer Abendgesellschaft mal nicht trinkt, dann ist man gleich seltsam, die Spaßbremse. Dabei ist der Übergang vom gelegentlichen Genuss-Trinken zum regelmäßigen Suchtverhalten oft fließend und selten bekommt es jemand bewusst mit – es sei denn, er:sie kennt die Zeichen.

Alkoholismus ist daher leider keine seltene Krankheit. Sie zieht sich durch sämtliche Gesellschaftsschichten.

Alkoholismus ist daher leider keine seltene Krankheit. Sie zieht sich durch sämtliche Gesellschaftsschichten und trifft den reichen Bänker und Familienvater oder die Hausfrau und Mutter ebenso wie die klischeehaften Fälle, wie ich sie am Anfang genannt habe: der Obdachlose und der gewalttätige Unterschichten-Ehemann.

Alkoholkranke sind meistens vor allem eins: tieftraurig und dabei oft hilflos – und das sind viel mehr Menschen, als wir im alltäglichen Leben so mitbekommen.

Alkoholkranke sind meistens vor allem eins: tieftraurig und dabei oft hilflos.

Meine Mutter ist eine ihre Familie liebende Frau und ich habe nie daran gezweifelt. Sie trinkt, ja, denn sie ist traurig und krank. Aber sie kämpft dagegen – und sie ist kein schlechter Mensch. Niemand sucht es sich aus, süchtig zu sein. Und manchen Leuten kann man nicht helfen – aber anderen eben schon. Und wenn es nicht die Betroffenen selbst sind, dann die Angehörigen.

Alkoholismus ist ein Tabuthema –­ nach wie vor. Aber wie bei allen Tabuthemen bleiben sie nur solange welche, wie man nicht über sie redet. Deshalb: Redet! Sei es, weil ihr selbst ein Problem habt, oder weil es jemanden betrifft, den ihr liebt. Sprecht darüber und holt euch Hilfe. Nur so werden wir die Klischees und hoffentlich auch die Probleme los, die zu diesen führen.

Wenn auch du oder ein Familienmitglied oder Freund von dir unter einem Suchtproblem leidet, haben wir hier ein paar Seiten rausgesucht, wo du dich oder ihr euch selbst Hilfe suchen könnt. Hier kannst du dich über das Thema Alkoholsucht informieren und hier findest du Anlaufstellen in deiner Nähe. Hab nur Mut! Der erste Schritt kann auch ein Anruf bei der Telefonseelsorge sein, Hauptsache ist, du wagst ihn. 
 

Die Autorin des Textes möchte anonym bleiben.

Headerfoto: Grace Madeline via Unsplash. („Gesellschaftsspiel“-Button hinzugefügt, Bild gecroppt.) Danke dafür!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.