Es ist schon hell draußen. Die Party ist noch in vollem Gange. Ich lasse die Wohnungstür hinter mir ins Schloss fallen, gehe die Treppe runter und stehe auf der Straße. Früher hätte ich sie einfach überquert. Jetzt blicke ich kurz auf die gegenüberliegende Häuserfront, in den dritten Stock, wo ich Dein Fenster sehe. Mein Fenster. Unser Fenster.
Die Vorhänge sind zugezogen. Vorhänge, die ich damals bei meinem ersten Trip zu Ikea gekauft habe, als ich nach Berlin gezogen bin. Jetzt liegst Du hinter diesen Vorhängen im Bett, das mal meins war, und schläfst.
Wie oft habe ich aus diesen Fenstern geschaut und mich in meinen Gedanken verloren? Wie oft habe ich diese Vorhänge zugezogen und wir haben uns geliebt? Mal laut und schmutzig, mal verkrampft und unsicher, mal intensiv und liebevoll. Wie oft haben wir einander Frühstück gebracht und sind Arm in Arm eingeschlafen?
Ich frage mich, ob Du Albträume hast. Ich habe sie ab und zu. Manchmal wache ich morgens auf, vergesse für einen Moment, was passiert ist, und bin unruhig und selig zugleich. Und dann kommt es plötzlich wieder über mich. Alles dreht sich. Mir wird schlecht.
Ich bin wirklich davon überzeugt, dass eine Liebe wie unsere nicht jedem passiert.
Ich bin wirklich davon überzeugt, dass eine Liebe wie unsere nicht jedem passiert. Wie verrückt wir nacheinander waren und es ja irgendwie immer noch sind. Ich war so verliebt, ich habe mich manchmal wie geistig umnachtet gefühlt. Ich war gar nicht mehr richtig anwesend. Unsere Geschichte ist wie im Film. Es ging alles so schnell. Es war so unausweichlich. Wir sind so schnell miteinander verschmolzen.
Wir haben uns kennengelernt am anderen Ende der Welt. Schnell war klar, es ist verrückt, aber Du und ich – wir wollen uns. Jetzt. Und für immer. Wir konnten einander nicht einfach gehen lassen.
Gut, jetzt hatten wir uns gefunden. Aber wie sollte das weitergehen? Wir ignorierten die Zukunft und verloren uns in unserer Liebe. Für mich war schon länger klar, dass ich nach Berlin wollte, und Du hattest beschlossen, mir zu folgen, damit wir zusammen sein konnten. Keiner von uns wollte es ohne den anderen.
Jetzt blicke ich auf die letzten drei Jahre zurück und irgendwie war vieles so oft so schwierig und wir haben es gar nicht gemerkt. Du ziehst erstmal mit in mein Zimmer, solange Du noch keinen Job hast. Dann hast Du einen Job. Und bleibst.
Ich weiß, Du siehst das gelassener, aber den Samstagabend zu Hause zu verbringen, stürzt mich in eine tiefe Depression.
Es läuft gut. Wir sind so glücklich darüber, endlich zusammen zu sein. Aber angekommen sind wir noch lange nicht. Freunde finden ist nicht mehr so einfach wie zu Kindergartenzeiten. Und das erst recht nicht in Berlin. Es dauert seine Zeit, Anschluss zu finden. Ich weiß, Du siehst das gelassener, aber den Samstagabend zu Hause zu verbringen stürzt mich in eine tiefe Depression.
Du fragst mich, ob Du nicht genug wärst, um mich glücklich zu machen. Was für eine bescheuerte Frage. Natürlich nicht. Okay, das war unsensibel von mir. Aber ich habe doch Recht. Ich sage, ich bin nicht eine von denen, die in einer Beziehung nicht mehr aus dem Haus kommt. Ich bin eigenständig.
Du redest übers Heiraten. Ich sage, ich brauche mehr Platz. Du fragst, ob ich Dich überhaupt lieben würde. Natürlich liebe ich Dich. So sehr. Ich glaube, niemand könnte mit jemandem auf 15 Quadratmetern zusammenwohnen, den er nicht von ganzem Herzen liebt. Aber mich liebe ich auch. Und ich brauche Raum. Für mich. Ohne Dich. Ich ziehe aus.
Bilder schießen mir durch den Kopf und lassen mich nicht mehr los.
Du brichst mir das Herz. Nochmal. Schon wieder. Es bricht dir das Herz.
Eure Blicke treffen sich. Du weinst. Ich bin gelähmt und starre aus dem Fenster. Sie öffnet Deine Hose. Du versuchst mir verzweifelt zu erklären, wie einsam Du warst. Ich zerschmettre Bierflaschen auf dem Boden. Du weinst. Ich weine. Dein Kopf zwischen ihren Beinen. Du zerschmilzt vor Scham und Schuldgefühlen. Du sagst, es war vorbei bevor es angefangen hat. Ich winde mich auf dem Boden und bade in meinem Schmerz. Du lügst. Ich glaube Dir. Du brichst mir das Herz. Nochmal. Schon wieder. Es bricht Dir das Herz.
Wärst Du jemand anderes, hätte ich längst „auf nimmer Wiedersehen“ gesagt. Aber Du bist Du. Und Du würdest so etwas doch nie tun, oder? Kein Mensch konnte es fassen. Es passte überhaupt nicht zu Dir. Ich weiß, Du hast ein gutes Herz. Zu beschließen, Du wärst ein krankes Arschloch, wäre mir zu einfach. Bist Du nicht. Ich muss verstehen, was da passiert ist. Verstehen, warum Du mir über Monate verschwiegen hast, wie schlecht es Dir ging. Wie vernachlässigt Du Dich gefühlt hast. Wie einsam Du warst.
Diese Schmerzen. Unerträglich. Als würde man innerlich verbluten.
Aber meine Verletzung sitzt so tief. Ich bestehe nur noch aus Wut und Schmerz und Angst. Ich habe so viel geweint, ich dachte, ich würde nie wieder damit aufhören. Diese Schmerzen. Unerträglich. Als würde man innerlich verbluten. Aber ich überstehe das. Ich weiß nicht, wie, aber ich werde mich davon nicht kaputt machen lassen. Und was mit uns ist, fragst Du. Uns. Wir. Gibt es das noch? Mal sehen….
Ich frage mich bis heute, ob es wirklich möglich ist, sich so zu verhalten und trotzdem jemanden aufrichtig zu lieben. Für mich jedenfalls nicht. Aber ich bin nicht Du. Und wenn Du sagst, es ist so, dann möchte ich versuchen, es zu verstehen. Dir zu verzeihen wird mich alles kosten, was ich habe. Aber ich weiß, ich muss es tun. Sonst werde ich verbittert und kalt. Und dann ist man so gut wie tot.
Headerfoto: Timothy Paul Smith via Unsplash. (Gedankenspiel-Button hinzugefügt.) Danke dafür!
Wow! Da fehlen mir die Worte! Das ist unglaublich toll geschrieben und es erinnert mich an Schmerz… aber vielleicht, ganz sicher bestimmt sogar, ist die Liebe oder ein Mensch oder beides das wert. Doch wie du so schön geschrieben hast; auch oder gerade sich selbst lieben ist auch SO wichtig, sonst geht man kaputt…