Es ist 12 Uhr und ich habe schon fünf Stunden Meditation, das Frühstück und das Mittagessen hinter mir. Vor mir liegen noch neun Stunden und neun Tage, an denen ich wie eine Nonne leben werde. Der strenge Tagesplan von 4 bis 21 Uhr besteht aus Meditieren, Essen, Schlafen und Klo.
Ich bin im Vipassana Zentrum in den Bergen Pokharas, von wo aus viele Menschen auf Trekkingtouren zum Himalaya hochhecheln. Jeden Tag regnet, hagelt und donnert es. Mir kommt die Idee, dass ich auch auf die Malediven fliegen und mich im Bikini im Puderzuckersand hätte räkeln können.
Weil man sich aber immer selbst mitnimmt (egal wohin man geht), war für mich klar, dass ich das Paradies gerade nicht genießen könnte.
Ein Mädel im Hostel erzählte mir von einem günstigen 130 Dollar Flug. Weil man sich aber immer selbst mitnimmt (egal wohin man geht), war für mich klar, dass ich das Paradies gerade nicht genießen könnte. Innerlich zu sehr zerrissen, feststeckend zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Selbstoptimierung und Selbstzweifeln – und und und… zum Weglaufen.
Und deswegen blieb ich da, wo ich war. In Buddhas Heimat Nepal – zum Glück. Es ist ein ruhiges, nettes Land mit viel Natur und wenig Hokuspokus, der mir in Indien sonst so oft entgegenschwappte.
Buddha saß damals einfach unter einem Baum, jammerte nicht rum und war zufrieden mit dem Hier und Jetzt. Das ist die Kunst des Lebens, das wollte ich lernen; der erste Grund, warum ich mich für die Vipassana Meditation anmeldete.
Kurz bevor es losging und als Zweifel auf mich einstürmten, lief Joëlle aus Luxemburg mir über den Weg. Sie sagte: „Ich bin auf meiner Reise wie ein Fähnchen im Wind unterwegs – das reicht mir jetzt. Ich geh zum Vipassana“. Wir gaben uns High Five und zogen es jeder für sich durch.
Ich bin auf meiner Reise wie ein Fähnchen im Wind unterwegs – das reicht mir jetzt. Ich geh zum Vipassana.
Mit dabei: coole Menschen wie Jan aus Saarbrücken. Während sein Zwillingsbruder brav daheim studiert, ist er lange wütend auf alles gewesen, drei Jahre lang um die Welt gereist, jetzt, mit 21 Jahren, hat er Meditation für sich entdeckt und ist peacig drauf. Ich wünschte, es gäbe mehr Menschen wie ihn, die mal anhalten und angucken, was abgeht.
„Ohne Heimat – keine Reise“
Vipassana steht für Einsicht oder Klarsicht und ist mit das Härteste, was man sich in Sachen Meditation geben kann. Buddha hat diese Methode erfunden, mit der wir uns von unseren Leiden befreien können, also von unseren nervigen Denkmustern und Gewohnheiten, mit denen wir uns selbst schaden und unglücklich machen. Und dafür müssen wir erstmal leiden, radikal zu uns selbst reisen und aufräumen, unser Oberstübchen entrümpeln und durchlüften.
Wir sitzen zwölf Stunden am Tag wie erstarrt auf einem uns zugeteilten Kissen, die Beine verknotet wie eine Brezel. Warum? Damit der Geist, der wie ein Teich an der Spitze unseres Körpers thront, durch unsere Bewegungen nicht aufgewühlt wird. Deswegen auch keine sportlichen Andeutungen in den kurzen Pausen.
Das leuchtet mir ein. Dazu gibt es einen Informationsentzug. Ich gebe mir sonst gerne die volle Ladung Input und am Ende des Tages penne ich erschöpft mit dem Smartphone in der Hand ein.
Ich versuche Vipassana auch, um mehr Fokus, mehr Konzentration und mehr Balance zu bekommen.
Ich versuche Vipassana auch, um mehr Fokus, mehr Konzentration und mehr Balance zu bekommen. Und ich möchte lernen, mich auch mal selbst in Ruhe zu lassen, denn in meinem Kopf läuft auch auf Reisen als Hintergrundmelodie ein anstrengendes, angstgesteuertes Egoprogramm ab.
Wann wurdet Ihr zum letzten Mal dafür gelobt, einfach zu sein, statt was Spezielles geleistet zu haben? Eben. Vipassana lehrt Euch in erster Linie, Human Being statt Human Doing zu sein. Smartphone, Kamera, Bücher, Zettel, Stifte – gebe ich deswegen ab. Ich freue mich auf diesen Digital-Detox. Dazu zehn Tage lang noble silence. Ich muss nicht überlegen, was ich interessantes erzählen könnte – und ich werde nicht vollgelabert.
Ich liebe diese Sabbelpause. Ich darf die anderen Teilnehmer nicht berühren oder bewusst angucken. Kleine „Be Happy“-Schilder erinnern mich daran, nicht miesepetrig zu werden, und „Noble Silence“ ans Schweigen, egal, was kommt, auch wenn Killerspinnen auf dem Klo warten.
Ich liebe diese Sabbelpause. Ich darf die anderen Teilnehmer nicht berühren oder bewusst angucken.
Schwarz und tennisballgroß hockt sie dann da auch: die größte Spinne, die ich je sah – mitten auf der Klobürste. Ich breche die noble silence und brülle kurz los. Meine Zimmergefährtin Ranjita, eine taffe Nepalesin, saust an mir vorbei, sie packt die Klobürste samt Spinne und katapultiert diese über den Zaun in den Wald.
Sie schafft es auch in den kommenden Tagen, einen auf gechillte Superninja*in zu machen – ganz à la Vipassana. Egal was kommt, wir bleiben gleichmütig. Im Gruppen-Meditationsraum zieht sie eine Art Ohrenkneifer unter dem Kissen einer hochroten Teilnehmerin hervor, die ihn zuvor an sich hochkrabbeln spürte und nicht gleichmütig blieb.
Mind matters most
Denn so, wie unser Körper auf einen krabbelnden Ohrenkneifer reagiert, reagiert er auch auf Gedanken. Sie sind Boss und bestimmen, wo es langgeht: Wenn der Kopf auf nervös schaltet, müssen manche von uns mehr aufs Klo, erschrecken sich, oder ihnen poltert das Herz, sie sind traurig, fühlen sich dumpf.
Wir holen uns Trost durch äußere Reize und laufen so Gefahr, Gewohnheiten zu etablieren, mit denen wir uns selbst schädigen.
Auf diese Körperreaktionen reagieren wir wiederum. Wir holen uns Trost durch äußere Reize und laufen so Gefahr, Gewohnheiten zu etablieren, mit denen wir uns selbst schädigen. Als ich vor Jahren wirklich schlimmen Kummer hatte, fing ich an zu rauchen. Schnell merkte ich: „Ich kann gar nicht so viel rauchen, wie ich gerne würde, um meine Gefühle nicht zu fühlen.“
Ich habe erkannt, dass ich mein emotionales Innenleben nicht mit über 60 Zigaretten am Tag reparieren kann. Andere greifen zu Drogen, wie der Musiker John Frusciante, Ex-Gitarrist der Red Hot Chili Peppers. Durch die Reise in sein Inneres, wie er sagt, ist er angeblich von seiner Heroinsucht weggekommen.
Bei der Vipassana Meditation hat er gelernt, nicht zu reagieren, wenn ein Ohrenkneifer über seinen Kopf krabbelt. Denn wartet man mal ein bisschen ab, geht auch diese Sensation vorüber. Ein guter Trick zum Klarkommen und Seinlassen.
Denk-Detox vs. Monkeymind Madness
Um zu kapieren, was überhaupt in uns vorgeht, brauchen wir scharfe Sinne und ein feines Körperbewusstsein, das weit über „oh mein kleiner Zeh pennt ein“ hinausgeht. Bevor wir Millimeter für Millimeter unseren Körper scannen und lernen, ohne Bewertung seine Gefühle zu beobachten, sollen wir uns an den ersten drei Tagen auf unseren Atem konzentrieren.
An Tag eins vegetiere ich vor mich hin und penne immer wieder ein. An Tag zwei wirkt der Informationsentzug und ich bin hellwach, meine Gedanken sind wie eine Horde Affen auf Ritalin, ich habe das Zeug nie ausprobiert, aber so muss es sein. Ich bin hochkonzentriert und fange im Kopf an zu schreiben. Neue Reisegeschichten, Ideen, Projekte.
Dann lässt die Euphorie nach, ich ziehe meine Stirn zusammen. Mein Kopf saust in die Zukunft und geht in den Grübel-Planungsmodus, wann das Ende der Reise ist und wie es danach weitergeht. Ja, Sorgen um die Zukunft machen, die noch nicht da ist – vergeudete Energie.
Sorgen um die Zukunft machen, die noch nicht da ist – vergeudete Energie.
Jetzt springen die Gedanken in die Vergangenheit und schalten auf Drama: eine Szene, die ich schon tausendfach angeguckt habe. Mein Atem wird flacher und gepresster, mein Herz schrumpft. Ich erinnere mich: Der Mensch, der mir am nächsten stand, mit dem ich viele Jahre meine Welt teilte, was auch gut war, hatte mich getäuscht und das eine lange, lange Zeit, was nicht gut war.
Damals konnte ich die vielen Infos, die auf mich einprasselten, kaum verarbeiten. Mein Körper wurde knallheiß und ich hatte das Gefühl, in tausend Stücke zerbrechen zu müssen. Das Ende der Beziehung war nicht das Problem, es brachte auch viel Gutes mit sich und heute weiß ich, dass Menschen sich in jeder Sekunde verändern – Wünsche, Vorlieben…nichts bleibt, wie es ist.
Im Vipassana nennt man es anicca – Unbeständigkeit der Dinge. Das Problem war der Vertrauensbruch. Er schraubte sich tief in mein System und veränderte es nachhaltig. Angst, Misstrauen und Zweifel kamen als Gäste, blieben einfach und warteten immer wieder auf eine Bestätigung ihrer Daseinsberechtigung.
Auf dieser Reise wollte ich die Denkmonster endgültig rauswerfen, auch ein Grund warum ich beim Vipassana landete.
Auf dieser Reise wollte ich die Denkmonster endgültig rauswerfen, auch ein Grund warum ich beim Vipassana landete.
Selbstwirksamkeit
Ich melde mich an zu einem persönlichen Gespräch mit dem gutmütigen, bebrillten, 74 Jahre alten Vipassana-Lehrer aus Nepal. Ihm wurde seine Frau vor 45 Jahren gebracht, ohne, dass er sie vorher zu Gesicht bekommen hatte. Er ist bis heute mit ihr glücklich und fragt sich, warum wir in der westlichen Welt, die Partner, die wir selber aussuchen dürfen, irgendwann betrügen und oder verlassen.
Gute Frage, sehr vielschichtiges Thema. Da prallen natürlich zwei ganz unterschiedliche Welten aufeinander. Für mich ist es erstmal wichtig, wieder vertrauen zu können. Ich frage ihn, wie ich es anstellen soll. Noch bevor er antwortet, kommt mir eine Situation in den Kopf, die kurz vor meiner Reise in Leipzig passierte.
Ich fuhr mit einem verlorenen Weltenbummler Tandem durch Leipzig. Ich kannte ihn schon einige Wochen und meine innere Stimme flüsterte mir mehrmals zu „Pass auf Dich auf“. Wir steuerten auf die große Kreuzung am Rathaus zu, und er sagte zu mir: „Vertraue mir niemals, nur hier auf dem Tandem.“
Das war der Moment, in dem ich begriff, dass ich die Zügel für mein Leben sofort selbst in die Hand nehmen muss.
Dann düste er mit Highspeed über die rote Ampel in den Gegenverkehr. Es war sehr knapp. Aber das war der Moment, in dem ich begriff, dass ich die Zügel für mein Leben sofort selbst in die Hand nehmen muss. Ich bin verantwortlich für meine Wahl. Den Zeigefinger auf den Täter zu richten und mich dabei zum Opfer zu machen, kann ich mir sparen.
Ich muss nicht dem anderen vertrauen, sondern vor allem mir selbst. Damit weichen auch Angst, Misstrauen und Zweifel, die das Gegenteil von Liebe sind. Erst dann kann das scheue Herz sich wirklich öffnen… Und wenn eine Begegnung doof verläuft, kann ich das schade finden, muss aber kein Drama daraus machen, das mich dazu bringt, mein Herz auskotzen zu wollen.
Der Lehrer bestätigt, dass Eigenwirksamkeit der Schlüssel ist. Immer wieder zurück zu sich kommen, sich updaten und checken, was gerade Sache ist.
Der Lehrer bestätigt, dass Eigenwirksamkeit der Schlüssel ist. Immer wieder zurück zu sich kommen, sich updaten und checken, was gerade Sache ist.
Er erklärt: „Menschen, die andere bewusst täuschen, schaden in erster Linie sich selbst. Sie sind mit sich und ihren Gedanken nicht im Reinen und können so keinen Frieden finden. Das Gesetz der Natur wird ihre Taten richten.“ Was für eine Misere! Meine Wut weicht dem Mitgefühl. Er verabschiedet sich mit dem chinesischen Sprichwort:
»We sow a thought and reap an act; We sow an act and reap a habit; We sow a habit and reap a character; We sow a character and reap a destiny.«
Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden Worte. Achte auf Deine Worte, denn sie werden Handlungen. Achte auf Deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheit. Achte auf Deine Gewohnheiten, denn sie werden Dein Charakter. Achte auf Deinen Charakter, denn er wird Dein Schicksal.
Am Morgen von Tag Elf wird die Aussichtsplattform geöffnet, jetzt dürfen Männer und Frauen, die am ersten Tag getrennt wurden, wieder aufeinandertreffen. Von den 34 sind noch 27 übrig. Ein Pärchen gab auf, einer wurde gegangen, weil er auf seinem Zimmer heimlich aß, ebenso eine Dame, die eine Teilnehmerin anfasste und zwei Sunnyboys, die sich nach dem Vortrag zum Thema „Liebe – selbstzentriert vs. bedingungslos“ vom Acker machten.
Wir schauen auf den See, im Hintergrund versteckt sich der Himalaya hinter einem Nebelschleier. In all den Tagen hat er sich nur einmal gezeigt.
Wir schauen auf den See, im Hintergrund versteckt sich der Himalaya hinter einem Nebelschleier. In all den Tagen hat er sich nur einmal gezeigt. Und jetzt, innerhalb einer Stunde klart es mehr und mehr auf, bis der Himalaya uns mit seiner Schneemütze anschaut. So ein schönes Bild! Es passt zu Vipassana: Erst sind unsere Köpfe vernebelt und verdüstert und dann, mit der Zeit, klaren sie auf.
Jan rennt wie ein Hundewelpe herum und brüllt: „Ey, ich geh nach Hause und ich werde was machen, das ich noch nie getan habe. Ich werde meine Eltern umarmen, ich freue mich darauf, ich bin so voller Liebe!“
Be Happy! Mucho Love, Yvi.
Headerfoto: Meditierende Frau (Stockfoto) via Margarita Stromets/Shuttersstock. („Wahrheit oder Licht“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!
Dankeschön Wortschatz.. Ich „arbeite“ immer noch am Sein:) & Sein lassen. Liebe Grüsse
WOW!
„Wann wurdet Ihr zum letzten Mal dafür gelobt, einfach zu sein, statt was Spezielles geleistet zu haben? Eben.“