Immer dann, wenn mir das Thema Familie über den Weg läuft, wie wichtig die Familie ist und wie sie über allem und jedem steht und einen nie im Stich lässt, könnte ich kotzen. Dieses „Blut-ist-dicker-als Wasser“-Getue und „Aber es ist/sind doch deine Mutter/dein Vater/deine Eltern.“ – Ich kann es einfach nicht mehr hören.
Meine Familie – und damit meine ich nicht nur meine Eltern und meinen Bruder, sondern auch meine beiden Großeltern, meinen Patenonkel (der gleichzeitig der Cousin meiner Mutter ist) und auch meinen Onkel und meine Tante und meine Großtanten und Großonkel, soweit ich mich an sie erinnern kann – ist ein Haufen von wehleidigen, sich selbst bemitleidenden und nur um sich selbst kreisenden Jammerlappen.
Wenn ich Leuten gegenüber Witze mache, dass ich glaube, adoptiert worden zu sein, dann ist da mehr Wahrheit als Witz dran.
Wenn ich Leuten gegenüber Witze mache, dass ich das schwarze Schaf der Familie bin – im positiven Sinne – oder glaube, dass irgendwann mal herauskommen wird, dass ich adoptiert bin, dann ist da mehr Wahrheit als Witz dran.
Wir sind niemals geschlagen worden, nie sexuell belästigt, wir mussten nicht essen, was wir nicht mochten und meine Eltern waren sogar beim Thema Rauchen sehr tolerant (vor allem, weil sie selbst starke Raucher waren). Ich glaube auch wirklich, dass meine Eltern ihr Bestes gegeben haben und uns nie etwas Böses wollten – aber dann waren sie wohl einfach zu verkorkst.
Und mein Bruder … was bei ihm schief gelaufen ist, weiß ich nicht, oder warum er eine lange Drogenlaufbahn hinter sich und kaum was erreicht hat in seinem Leben – und trotzdem glaubt, die Welt wartet nur auf ihn und jeder andere wäre grundsätzlich dümmer als er.
Du sollst Deinen Vater und Deine Mutter ehren?
Es ist schwer, anderen zu erklären, warum man die eigenen Eltern nicht lieben und respektieren kann, obwohl sie einem doch keinen physischen Schaden zugefügt haben – und auf den ersten Blick auch keinen psychischen. Es ist schwer, anderen zu erklären, wie alleine und verlassen ich mich gefühlt habe, als ich mit 19 nach dem Abi ausgezogen bin, sich meine Eltern gleichzeitig getrennt haben und dann alles irgendwie den Bach herunterging.
Es ist schwer, anderen zu erklären, wie alleine und verlassen ich mich gefühlt habe, als ich mit 19 nach dem Abi ausgezogen bin.
Wie schwer es war, dass ich gerade mein neues, eigenes Leben begann und keine Ahnung hatte, wie die Dinge da draußen laufen, und mich zeitgleich um meine Familienmitglieder kümmern musste und selber irgendwie die Erwachsenenrolle übernahm, obwohl ich doch noch gar keiner war und vielmehr selbst Unterstützung gebraucht hätte. Bildlich gesprochen, stand ich von heute auf morgen mutterseelenalleine im Regen.
Und dann musste ich nicht nur mein eigens Leben auf die Reihe bekommen, sondern wurde auch noch in die Abgründe der anderen Familienmitglieder mit reingezogen und versuchte zu retten, was zu retten war. Dabei vergaß ich mich selbst und begann deshalb schließlich mit 20 meine erste Therapie. Weil ich Rat und Hilfe brauchte.
Seitdem gab es diverse und unterschiedlich lange Kontaktabbrüche von mir zu meinen Eltern, mein Bruder hatte sich schon immer rar gemacht und verschwand irgendwann einfach mal für acht Jahre, um dann im Gefängnis wieder aufzutauchen (wegen Drogenbesitzes). Aber immer wieder startete ich neue Versuche mit meinen Eltern, (die geschieden sind und keinen Kontakt mehr zueinander haben) nur um dann festzustellen, dass sich nichts geändert hatte.
EIGENWERBUNGSie jammerten immer noch, konnten die Vergangenheit nicht loslassen und gaben den anderen und überhaupt dem ganzen Universum die Schuld an ihrer eigenen Misere. Sie kreisten nur um sich selbst, übernahmen keine Verantwortung und wollten ganz offensichtlich nicht glücklich sein. Bis heute haben sie auch beide keine*n neue*n Partner*in gefunden. Bis heute haben sie nicht verstanden, was sie mir als ihrem Kind mit ihrem Verhalten „angetan“ haben und wie schwer es für mich war, da hinzukommen, wo ich jetzt mit 38 bin.
Meine Eltern kreisten noch immer nur um sich selbst, übernahmen keine Verantwortung und wollten ganz offensichtlich nicht glücklich sein.
Wie soll ich also diese Eltern „ehren“? Ja sicher, sie haben vielleicht oder sogar sicher bei mir den charakterlichen oder sonstigen Grundstein gelegt, sie haben mich ernährt und versorgt, bis ich 19 war. Meine Mutter hat mich beschützt und bestärkt (ich könnte jetzt sarkastisch sein und behaupten, dass wir Kinder ja auch ihr einziger Lebensinhalt waren und ihr Selbstbewusstsein aufgepeppelt haben), mein Vater hat mich intellektuell und musikalisch geprägt.
Aber ab 19 bin ich meinen Weg alleine gegangen, habe meine Beziehungen zu anderen Menschen selber ausgesucht und habe mich bewusst für bestimmte Werte und Moralvorstellungen entschieden. Ich habe Verantwortung für mich und mein Leben übernommen. Und ebenfalls 19 Jahre – die letzten 19 Jahre – habe ich versucht, eine offene, ehrliche und gesunde Beziehung zu meinen Eltern herzustellen.
Ich habe mit ihnen geredet, tausend Dinge mit ihnen unternommen, ihnen versucht zu zeigen, was das Leben alles für sie bereithält – und im Gegenzug gehofft, dass vielleicht irgendwann doch noch die liebenden Eltern zum Vorschein kommen, bei denen ich mich sicher und geborgen fühlen kann und die im Zweifel doch immer noch irgendwie die Älteren und Weiseren sind. Aber passiert ist nichts von alledem.
Akzeptanz und Entscheidung
Und somit bin ich nun an dem Punkt angekommen, an dem ich mich damit abgefunden habe, dass meine Familie einfach ein Sauhaufen ist, der in meinem Leben keinen Platz hat. Gott sei Dank habe ich nach meinem Auszug immer tolle Menschen in meinem Leben gehabt, die mich beraten, angeleitet und mir beigestanden haben. Menschen sind gekommen, aber auch gegangen.
Heute, mit 38, habe ich seit zwei Jahren den Partner, den ich mir immer gewünscht habe, und einen Freundeskreis, der wie eine Familie für mich ist.
Heute, mit 38, habe ich seit zwei Jahren den Partner, den ich mir immer gewünscht habe, und einen Freundeskreis, der wie eine Familie für mich ist. Mein Partner bzw. meine Freunde und ich, wir haben uns gegenseitig ausgesucht. Wir sind freiwillig Beziehungen miteinander eingegangen und haben dann ganz offensichtlich entschieden, diese beizubehalten und zu pflegen. Wir lieben uns, wir finden uns toll, wir schätzen und respektieren einander, wir fragen den anderen um Rat und geben selber Ratschläge.
Wir teilen Schönes und Schlechtes, wir wachsen mit- und aneinander. Und wir schaffen gemeinsame Erinnerungen, die uns keiner nehmen kann. Das alles basiert auf Gegenseitigkeit, auf Geben und Nehmen.
Und daher sage ich: In der menschlichen Anatomie ist Blut sicher dicker als Wasser, aber nicht im wahren Leben zwischen Menschen. Und wenn wir als Kinder nach vielen Jahren, vielen Versuchen und vielen Tränen vor und für uns selbst entscheiden, dass wir ohne unsere blutsverwandte Familie besser dran sind, dann ist das verdammt nochmal in Ordnung.
Wir suchen uns unsere Familie nicht aus, sie wird uns mitgegeben. Und wenn uns diese Familie nicht respektiert und schätzt und „ehrt“, warum sollten wir das dann umgekehrt tun?
Wir dürfen das. Wir suchen uns unsere Familie nicht aus, sie wird uns mitgegeben. Und wenn uns diese Familie nicht respektiert und schätzt und „ehrt“, warum sollten wir das dann umgekehrt tun? Welche Beziehungen sind wertvoller? Die, die durch Blutsverwandtschaft entstehen und die wir uns nicht aussuchen können, oder die, die wir freiwillig eingehen und aufrechterhalten?
Headerfoto: Rachel Pfuetzner via Unsplash. („Gedankenspiel“-Button hinzugefügt. Danke dafür!)
Wow, wunderbar, dein Artikel! Ich kann mich nahtlos einreihen in deine Geschichte und die der Kommentatoren.
Ich bin jetzt soweit, mit meiner Familie „aufzuräumen“ und mache hier und da sogar entsprechende Ansagen (ich bin 41 und durch 2 Therapien gegangen) Die Reaktionen sind natürlich durchwachsen, haha.
Was ich gerne hinzufügen würde, ist die Tatsache, dass man selbst ja eigentlich ein Konstrukt aus Generationen von Menschen ist, die sich im schlimmsten Fall schon seit einem Jahrhundert „schickanieren“. Ich habe vor einiger Zeit einzelne Personen meiner Verwandtschaft gefragt, warum, ihrer Meinung nach, unsere Familie kaputt ist. Es gab eigentlich ausnahmslos Schuldzuweisungen der jeweils älteren Generation gegenüber. Und null Verständnis.
Das zu verstehen, half mir enorm, Abstand zu finden, von Druck und falschen Erwartungen meiner Familie in meine Richtung. Und irgendwie auch, zu verzeihen ohne zu vergessen.
Liebe Grüße, LysLi
Hallo Rhonda,
ich habe Deinen Artikel erst jetzt gelesen. Danke dafür!
Ich habe mal in einer meiner Lieblingsserien Worte gehört, die den Spruch „Blut ist dicker als Wasser“ anders interpretieren und vervollständigen.
„Das Blut der Familie ist dicker als das Wasser der Gebärmutter“
In diesem Sinne:
Danke für Deine Worte.
Eine Pflegemama = Mama eines Sohnes, den ich nicht selbst geboren habe.
Und die auch so ihre Probleme mit ihrer eigenen, leiblichen Familie hat.
Blut ist auf jeden Fall dicker, als Wasser. Wer das Gegenteil behauptet, lag entweder noch nie völlig am Boden oder er hat kein Kind, was völlig am Boden liegt und welches er/sie aufhebt und wieder zu Laufen bringt….und das egal, was zwischendurch passiert oder gesagt wurde. Blut ist dicker, als Wasser! Ich kann es unterschreiben.
Hallo Rhonda,
vielen Dank für deinen Artikel. Es hat mir sehr geholfen ihn zu lesen. Ich habe so viele Probleme mit meinen Familienmitgliedern. Ich komme am wenigstens mit meiner Mutter klar, sie ist narzistisch und manipulativ. Ich wünsche mir fast nichts mehr als Eltern, die sich für mich interessieren und denen ich mich anvertrauen kann. Aber das wird in diesem Leben nicht mehr passieren, und es nimmt mir einen Stein vom Herzen, dich sagen zu hören, dass es okay ist, die eigene Familie nicht zu mögen. Ich habe schon so oft gemerkt, dass sie meine Lebensqualität einfach um Vielfaches verringert, und ich möchte mich von ihnen entfernen. Es freut mich sehr zu hören, dass du eine richtige „Ersatzfamilie“ gefunden hast. Ich hoffe, ich werde auch mal so enge Freunde finden, aber ich glaube das Loch in mir – die Sehnsucht nach einer richtigen liebenden Familie, vor allem Eltern – wird für immer bleiben.
Vielen, vielen Dank, dass du zu diesem Tabu einen Bericht geschrieben hast.
Alles Gute,
Marla
Hab „Blut ist dicker als Wasser“ gegoogelt und bin dabei auf obigem beitrag „gelandet“ , dem ich aufgrund meiner lebenserfahrung voll zustimmen darf:
Obiges zitat hörte ich viele jahre von meiner (einzelkind) ehefrau.
Deren Mutter „ganzvielejahre“ der eifersucht frönte.
Das Blut hat gesiegt.
Die Scheidung ist vollstreckt.
Meine Exfrau hat eine glückliche Beziehung und ist viel mit ihrem freund
aufderflucht ups… unterwegs natürlich. (bin es ihr vergönnt, ehrlich)
Die exSchwiegermutter sitzt allein im grossen Haus, denn die Enkelkinder sind
Dann bei mir.
Die kids kommen freiwillig und „ehren“ mich nicht extra.
Sie mögen mich halt einfach.
Nicht alle 10 gebote sind mir heilig.
Imgegenteil.
Franz vom ösiland
Hallo, du sprichst mir aus der Seele!
Ich bin als Einzelkind Gross geworden mit meiner alleinerziehenden Mama… Immer hab ich mir meinen Vater herbei gewünscht… Krisen mit Mama dafür in Kauf genommen , … Und einen in Lügen konstruckten verworrenen Alkoholiker zu treffen… Und mich Plagt die Frage warum er mich nicht lieben kann.. er weiss nicht wann ich Geburtstag hab, erinnert dich nicht daran wie alt ich überhaupt bin… Ja meine Eltern waren jung… Aber dieses Desinteresse tut weh… Und jetzt als Mama kann ich das noch viel weniger Verstehen… Und habe meine Schwiegereltern als Ratgeber und Stütze , gsd hab ich meine Familie gefunden… Inkl vielen Freunden die Geschwister des Herzens es sind… Den wie du so toll geschrieben hast… Beziehungen sind ein Geben und Nehmen.
Danke , das du mir mit deinen Zeilen gezeigt hast das ich ein Recht habe die zu denken!
Alles Gute!
Liebe Sabrina,
vielen Dank, dass Du etwas über Deine Geschichte geteilt hast. Es tut immer wieder gut zu wissen, dass man nicht alleine ist.
Ich freue mich sehr, dass Du Deine eigene Familie gefunden hast, die Dir auch etwas zurückgeben können.
Alles Gute für Dich.
Danke für das Thema, bin jetzt auch voll drin… Bleibt stark, braucht immer mehr Energie das Richtige zu tun!
Geschwister im Geiste?!
Alles Gute für Dich und bleib‘ Du auch stark!
Ich danke dir auch für diese Zeilen! Familie kann das Leben bereichern, wenn sie funktioniert und hilfreich sein im Leben, wenn alle zusammenhalten, sich akzeptieren und respektieren sowie sich gegenseitig unterstützen. Leider habe ich das weder in meiner noch in der Familie meines Freundes kennenlernen dürfen. Entweder wurde man „ausgestoßen“, weil Mutter oder Vater andere Dinge um die Ohren hatten oder man passte sich nicht genug an und fühlte sich ausgegrenzt und nicht so akzeptiert wie man wirklich ist. Ich hab keine Lust mich für Menschen zu verstellen und anzupassen nur weil ich irgendwelche Verwandtschaft mit denen habe.
Bei mir fing es schon mit 8 Jahren an mit dem auf eigenen Beinen stehen als sich meine Eltern trennten wir von einer Großstadt aufs Dorf zogen und ich nicht nur mein Zuhause verlor sondern auch zum Schlüsselkind wurde, weil meine Mutter arbeiten musste. Also weiß ich wie du dich gefühlt hast mit 19, ich war plötzlich diejenige die meine Eltern unterstütze und umsorgte, weil beide nicht richtig klar kamen mit dem neuen Leben.
Auch die restliche Verwandtschaft hat sich untereinander immer zerstritten. Lange Rede kurzer Sinn, es ist schwer seine Familie zu akzeptieren und sich dafür zu entscheiden sich selbst abzuwenden, weil es für einem selbst besser ist. Aber nur Menschen, die dich schätzen bringen dich weiter im Leben, der Rest hält dich auf!
Liebe Triss,
danke, dass du deine Geschichte geteilt hast. Es ist schon zu wissen, dass es andere mit einem ähnlichen Schicksal gibt und die wissen, dass man nicht gefühlskalt und grausam ist, weil man sich für sich selbst und gegen Menschen entscheidet, die einen nicht schätzen. Und die verstehen, wie schwer es ist, wenn man eigentlich doch lieber Kind sein möchte, und nicht der Erwachsene für die eigentlich Erwachsenen. Ich habe das Glück, dass mein Freund eine „gesunde“ Familie hat und ich von dieser Seite Zuneigung erfahre.
Ich wünsche dir und deinem Freund weiterhin viel Kraft. Erfreut euch aneinander und gebt einander den Kraft, die Liebe und den Respekt, den ihr euch von geliebten Menschen wünscht und den ihr verdient.
Danke für diese Zeilen. Ich habe für mich dieselbe Entscheidung getroffen und einen ähnlichen Weg beschritten, ebenfalls vor 19 Jahren, bin dabei immer wieder auf Unverständnis für meine „Harte und kalte“ Entscheidung gestoßen. Die gar nicht hart und kalt ist, sondern einfach liebevoll zu mir selbst und meinem Leben.
Die Tatsache an sich finde ich nicht schön, aber zu wissen das andere eine ähnliche Entscheidung getroffen haben und durchgemacht haben hilft und ist beruhigend.
Alles Gute
Liebe Yopsy,
danke dir sehr für deinen Kommentar! Auch mir hilft es zu wissen, dass es andere gibt, die so eine Entscheidung getroffen haben und verstehen, dass ich nicht kaltherzig und hart bin. Und ja, ich würde einiges dafür geben, eine „funktionierende“ Familie zu haben, aber dem ist nun mal nicht so und ich kann guten Gewissens vor mir selber sagen, dass ich alles versucht habe. Aber irgendwann musste ich mich entscheiden: ich oder die anderen.
Dir auch alles Gute und weiterhin viel Kraft und Stärke