Und bis es so weit ist, gibt es Eiscreme – wie ich mich an einer Tankstelle verliebte

Meine Großeltern hatten in den Wirtschaftswunderjahren der Sechziger eine Eigentumswohnung in einer katalanischen Kleinstadt gekauft, um sich dort nach ihrer Pensionierung niederzulassen. Nur kam ihnen die Altersdemenz dazwischen, und so vergaßen sie nicht nur ihre Ruhestandspläne, sondern auch die Wohnung. Meine Eltern baten mich, sie mir anzusehen, also setzte ich mich ins Auto, fuhr bei Jäger in Neukölln vorbei und fragte, ob er mitkommen wolle.

Wir rauchten viel, tranken beim Autofahren, sprachen über unsere Zukunft und ich verliebte mich in eine Frau, die ich nur für ein paar Minuten sah: an einer Tankstelle bei Lyon.

Die Wohnung war kakerlakenverseucht und das Haus so marode, dass Jäger und ich im Auto schliefen. Am nächsten Morgen traf ich die Frau wieder, als ich einen Spaziergang machte. Bei unserem ersten Stopp hatte ich Jäger erzählt, dass ich Schriftsteller werden wollte, was dieser erst hinterfragt, sich dann aber – wie er es immer tat – auf meine Seite geschlagen hatte. (Es ist fast ein bisschen zu sehr Pointe, dass wir beide Schriftsteller geworden sind.)

Ich stehe da und will nur tanken – und dann huscht sie vorbei, meine Traumfrau.

Selbst wenn es nicht so passiert wäre, hätte ich die Geschichte genau so erzählt: Ich stehe da und will nur tanken – und dann huscht sie vorbei, meine Traumfrau, nur eine Ahnung. Und genauso schnell wie sie gekommen ist, verschwindet sie wieder, mit nichts als einem kurzen Lächeln. Und nachdem Jäger und ich eine anstrengende, kräftezehrende Odyssee hinter uns gebracht haben und hinabgestiegen sind in die Hölle dessen, was einst eine Wohnung gewesen war, ein bewohntes Haus, mit Kindergeschrei, dumpfer Musik, dem schweren Geruch von Essen im Treppenhaus und Geranien auf den Balkonen, ging es gar nicht anders, als dass wir uns wiedersehen mussten: füreinander bestimmt, wie Romeo und Julia, Tristan und Isolde, Orpheus und Eurydike.

Unnötig zu erwähnen, dass alle drei Paare nach Momenten intensiven Glücks veritabel in der Scheiße landen. Romeo und Julia? Beide tot. Tristan und Isolde? Ebenfalls beide tot. Orpheus aber ist wohl am übelsten dran, allein und am Leben, während Eurydike tot ist.

Dabei hätte alles gut sein können, in allen drei Geschichten. Nur würden wir uns ohne Tragik, Intrigen, Verrat und Tod wohl kaum an sie erinnern. Große – oder besser: erinnernswerte – Geschichten brauchen die Düsternis. Glücklich endende, ermutigende und optimistische Geschichten sind vielleicht unterhaltsam, aber eben auch nicht mehr.

Die Morgensonne umrahmte sie, sodass sie leuchtete wie eine Marien-Erscheinung.

Als ich sie nach der Nacht im Auto das zweite Mal sah, wusste ich, dass es eine große Geschichte werden würde, egal wie sie endete. Sie trug ein weißes Sommerkleid und lehnte an ihrem silbernen Mercedes, auf der Motorhaube glitzerte der Tau. Sie blickte in eine Karte und pustete sich hin und wieder eine Strähne ihrer dunkelblonden Haare aus dem Gesicht. Die Morgensonne umrahmte sie, sodass sie leuchtete wie eine Marien-Erscheinung.

Ich hatte Szenen wie diese hundertmal erlebt, in alten französischen Filmen, amerikanischen Roadmovies und Beat-Romanen, sodass in mir irgendwann die Erkenntnis gereift war, selbst Geschichten erzählen zu wollen. Wenn schon die Realität so unpointiert war, so ohne jede Dramaturgie, ohne Helden und Schurken, dann musste ich sie eben selbst erschaffen.

Und jetzt war ich mittendrin. Ich wusste, dass ich dieser Geschichte folgen musste, egal wohin sie mich führte. Jäger hinterließ ich eine Nachricht und den Autoschlüssel, dann war ich weg.

Ihr Name war Katharina, und hätte es damals schon Wikipedia gegeben oder ich eine bessere Allgemeinbildung gehabt, hätte ich gewusst, dass ihr Name auf dem griechischen Adjektiv »katharos« basiert, das »rein« bedeutet. Katharina die Reine. Katharina die Aufrichtige.

Kaum dass wir im Auto saßen, wusste ich nichts zu sagen. Wie wenn man einen Prominenten auf der Straße trifft und nicht viel mehr rausbekommt, als dass man seine Filme oder Musik mag und natürlich der größte Fan ist. Nach einem für beide unerträglich langen Moment der Awkwardness macht man vielleicht noch ein Foto, wobei ich sicher bin, dass Prominente die Erfindung des Fotohandys nicht unkritisch sehen. Genauso sicher ist, dass besagter Prominenter froh ist, wieder seine Ruhe zu haben. Zumindest fünf Minuten lang, bis ihn der nächste Passant anspricht.

Ich dachte: Wow, eine Frau, die Ahnung von Autos hat.

»Das ist ein schöner Wagen«, sagte ich, um irgendetwas zu sagen.
»Das ist ein Mercedes 450 SEL. Der kam 1972 auf den Markt, dieser hier ist aus dem Herbst 1980, kurz bevor Mercedes das Modell nicht mehr produzierte.«

Ich dachte: Wow, eine Frau, die Ahnung von Autos hat. Ich wusste nicht mal den Namen des Modells.

»Eine Frau, die was von Autos versteht, passt wohl nicht in dein Weltbild, was?«, fragte sie und ich stutzte.
»Kannst du Gedanken lesen?«, fragte ich.
»Nein, aber ich bin das gewöhnt.«
»Tut mir leid.«
»Ach, ich bin da nicht so«, winkte sie ab, aber ich sah, dass es sie beschäftigte. Als ich mit Katharina im Auto saß, war Anita Sarkeesian Teenager und ich gerade neunzehn Jahre alt. Von Judith Butler hatte ich noch nie gehört.

Katharina blickte zu mir herüber und lächelte, dann lenkte sie den Wagen auf den Seitenstreifen.

»Es tut mir leid«, sagte ich noch einmal. Katharina blickte zu mir herüber und lächelte, dann lenkte sie den Wagen auf den Seitenstreifen. Sie drehte sich um neunzig Grad in den Schneidersitz und sah mich mit ihren dunkelbraunen Augen durchdringend an.

»Was willst du von mir?«, fragte sie.
»Was?«, sagte ich und hatte plötzlich einen Kloß im Hals.
»Warum entschuldigst du dich die ganze Zeit? Ich habe dich mitgenommen, weil ich dich irgendwie mag. Wenn du irgendwann wirklich Scheiße redest, kann ich einfach rechts ran fahren und dich rausschmeißen. Aber damit das passiert, musst du noch ganz andere Sachen sagen.«

Ich sagte nichts, Katharina beobachtete mich einfach nur, setzte sich nach ein paar Sekunden der Stille wieder in Fahrtposition und ließ den Motor an. Sie schob eine CD in den Player und lenkte den Wagen zurück auf die Straße. Dirk von Lowtzow sang:

»So jung kommen wir nicht mehr zusammen / So jung werden wir uns nicht mehr sehen / Und ich find, es war schön, doch ich weiß nicht genau / Werden wir uns versteh’n?«

Katharina fuhr nach Sant Pere Pescador. Dort hatte Jäger mit seinen Eltern Urlaub gemacht, als er ein Junge war. Einmal war ich mitgefahren, als wir beide sechzehn Jahre alt waren. Ich erinnerte mich noch genau an den Weg zum Campingplatz, der durch eine Apfelbaumplantage führte, in der wir regelmäßig Äpfel klauten, wenn wir gerade bekifft waren und Heißhunger auf irgendwas hatten. Der Campingplatz lag direkt am Meer, wir brauchten keine fünf Minuten von unserer Parzelle bis zum Strand. Der Sand war weiß, das Wasser türkis – zumindest ist es bis heute in meiner Vorstellung so, in der dieser Urlaub so gigantisch ist, so legendär, so magisch, wie er in der Realität wohl nie war.

Ich fingerte eine burschikose Holländerin in meinem Zelt.

Heimlich tranken wir Bier und rauchten Gras, wir küssten Mädchen und schliefen am Strand. Als Jägers Eltern für ein Wochenende Freunde in Figueres besuchten, drehten wir für unsere pubertären Verhältnisse durch: Ich fingerte eine burschikose Holländerin in meinem Zelt zum Orgasmus, während Jäger ihre beste Freundin auf dem Rücksitz des elterlichen Autos leckte. Wir taten so, als sei es unser Auto, als machten wir einen Road Trip. Jeden Morgen stippten wir Croissants in Camping-Kocher-Kaffee, rauchten und knutschten, wie Sechzehnjährige eben knutschen.

Und in uns beiden war etwas erwacht: Der Wunsch zu leben. Und nicht einfach nur so, mit Bausparvertrag, 1,4 Kindern und drei Wochen Mallorca-Urlaub im Jahr. Jäger brachte unser Vorhaben mit einem Hunter-S.-Thompson- Zitat auf den Punkt:

»Life should not be a journey to the grave with the intention of arriving safely in a pretty and well preserved body, but rather to skid in broadside in a cloud of smoke, thoroughly used up, totally worn out and loudly proclaiming: ›Wow! What a ride!‹«

Es war uns nur noch nicht klar, wie wir das anstellen sollten.

Ich saß neben der schönsten Frau, die ich je gesehen hatte. Wenn das keine gute Geschichte war.

Als ich mit Katharina im Auto saß, war der grobe Plan allerdings zur Gewissheit geworden. Ich wollte Schriftsteller sein, wollte – wie Tyler Durden 1999 sagen sollte – »hart am Leben entlangschrammen« und davon erzählen, mitreißend, pointenreich und überspitzt wie in einem schlechten Actionfilm oder einem Buddy Movie. Ich war mit meinem besten Freund trinkend und rauchend durch halb Europa gefahren, war in die Unterwelt hinabgestiegen und saß jetzt neben der schönsten Frau, die ich je gesehen hatte. Wenn das keine gute Geschichte war.

Wir nahmen uns ein Zimmer in einem Hotel und gingen dann an den Strand. Der Sand war wirklich so weiß und das Wasser so türkis wie in meiner Erinnerung. Wir ließen Steine flitschen, sammelten Treibholz und Muscheln und legten uns schließlich in den Sand.

Heute fällt mir auf, wie streng das alles nach Rosamunde-Pilcher-Kitsch riecht. Damals neben Katharina im Sand zu liegen und in den Himmel zu schauen aber fühlte sich an, als wären wir der Mittelpunkt der Welt.

Martin Spieß schreibt belletristische Bücher, macht unter dem Namen VORBAND deutschsprachigen Indierock und arbeitet an seinem ersten Rap-Album. Sein Geld trägt er vorzugsweise zu seinem Stammtätowierer nach Berlin-Neukölln, obwohl er mittlerweile im Wendland lebt, der Heimat des Atommüllzwischenlagers Gorleben. Unter anderem dort spielt auch sein am 6. Februar erschienenes fünftes Buch, der Roman Und bis es so weit ist, gibt es Eiscreme, aus dem dieser Auszug stammt. Das Buch gibt es für 15 Euro überall dort, wo es Bücher gibt. Mehr zu Martin Spieß unter martinspiess.com und vorbandmusik.de.

Headerfoto: Frau im Auto via Shutterstock.com! („Gedankenspiel“-Button hinzugefügt.) Danke dafür.

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