Eigentlich geht es mir gut. Wirklich, von ganzem Herzen kann ich das sagen. Ich fühle mich wohl in meinem Leben, bin zufrieden mit dem und glücklich über das, was ich habe. Mein Leben, mein Alltag, ist wie ich ihn haben möchte und ich genieße das. Ich mache so viel Sport wie lange nicht, mag meine Arbeit, bin endlich auch mit dem Pferd glücklich, habe hier mein Zuhause gefunden. Tolle neue Menschen sind in mein Leben getreten und bereichern es unglaublich.
Aber dann gibt es diese – ich möchte sie Aussetzer-Momente nennen – Situationen, in denen ich merke, dass es eben doch etwas gibt, das meine Seele, mein Herz, belastet.
Du.
Es sind die Momente, wo das hochkommt, was mein Verstand zu verdrängen versucht, was eben einfach so zu sein hat wie es ist. Es sind diese Aussetzer-Momente, in denen mein Herz laut um Aufmerksamkeit schreit, als wolle es sagen: „Du, hör mal, Verstand, ich bin auch noch da!“
Meistens kommt es nicht unerwartet, aber nie willkommen. Es überrascht mich im Supermarkt, wenn ich deine Lieblingsschokolade sehe – ich kann und will sie nicht mehr essen, sie schmeckt nicht mehr. Es kommt in den Momenten, wo ich wenig Kontrolle hab – im Dämmerzustand zwischen Schlafen und Aufwachen. Erschreckend real erinnere ich mich an Kleinigkeiten, an Details, allem voran an das Gefühl dabei.
Dieses Gefühl, sicher zu sein.
Angekommen zu sein.
Gehalten zu werden und zu halten.
Deine Arme, deine Brust – sie waren meine Zuflucht.
Ich erinnere mich an Abende, eher Morgende. Du von einer anstrengenden Nachtschicht schick im Anzug in der Türe stehend, ich nur halb wach, zerstrubbeltes Etwas der Marke Panda. Lächeltest mich an – und wenn du dann neben mir lagst, war mein Herz vollkommen.
Wenn ich, fertig von allem und unfähig, das auszudrücken, was in mir vorging, einfach deine Nähe brauchte, ertragen konnte, ja eingefordert habe.
Wenn ich, hundemüde, viele Kilometer gefahren bin, einsam, nachts, frühmorgens, auf den Autobahnen des Ruhrgebietes, und es nie bereut habe. Ich wusste, warum ich jede Sekunde mit dir gegen eine Stunde Schlafen getauscht hatte.
Diese Gespräche im Dämmerzustand, im Dunkeln, nachts, viel zu spät, wenn man bloß nicht auf die Uhr schauen will – aber das Herz weit offen ist. Offen, vollends da, so ehrlich und verletzlich, aber so wunderschön.
Wenn ich in deinen Augen gesehen hab, was mein eigenes Spiegelbild mir nicht zeigen wollte – dass ich schön bin, einzigartig, besonders und geliebt. Ja, wahnsinnig geliebt.
Wie oft musst du das Gefühl gehabt haben, dass mir aber genau das nicht reicht? Wie oft habe ich dich, aus Unzufriedenheit mit mir, mit meinem Alltag, belastet? Und wie schwierig war es für dich, das nachzuvollziehen? Weil du gänzlich anders tickst, weil meine Welt viel mehr Schattierungen hat, voller Emotionen ist, weniger rational. Aber dadurch auch komplizierter.
Weil mein Drahtseil, mein Gefühlskartenhaus, so unendlich instabil war. Und deines so stabil.
Weil wir auf ganz verschiedenen Wellen funkten, weil ich dir nicht begreiflich machen konnte, was ich fühle, weil du es nicht nachfühlen konntest. Weil du mich einfach glücklich sehen wolltest und kaputt gegangen bist daran, dass du es nicht ändern konntest, ohne es verschuldet zu haben.
Hilflos – ja, ich glaube inzwischen, du warst sehr hilflos. Und ich war das auch, machtlos, kraftlos.
Und dann kamen diese grauen Tage, diese zerstörenden Momente, schreckliche Telefonate – und das Einzige, was ich tun konnte, war, mich emotional abzugrenzen, auszuschalten. Funktioniert hat es nicht, aber niemand zerbricht daran, so sehr ich es mir manchmal gewünscht habe.
Du meintest nicht das, was du gesagt hast, als wir uns das letzte Mal sahen – und dennoch meintest du genau das. Irgendwie. Befremdlich und unglaublich verletzend hast du versucht auszudrücken, was ich im Inneren wusste, aber was ich nicht ändern, nicht verbessern, womit ich nicht umgehen konnte. Und wenn ich eines inzwischen begriffen habe, dann, dass ich wirklich mich finden musste, mich sortieren, ankommen. Die vielen Veränderungen abarbeiten, aufarbeiten, sortieren, verarbeiten.
Viel ist seitdem passiert, vieles, wo ich dich unfassbar vermisst habe, aber auch viele Momente, wo ich genau gewusst habe, dass du meine Entscheidungen, meine Sorgen, meine Gedanken nicht verstanden hättest.
Mein Kopf weiß, dass es nicht verkehrt ist, wie es ist. Aber mein Herz nicht – das will zurück in die schlaflosen Nächte, zu vertrauensvollen Gesprächen im Dunkeln, zu deinen Umarmungen.
Ich hoffe, irgendwann wird mein Herz lernen, dass der Verstand recht hat. Bis dahin bleiben diese Aussetzer-Momente meine treuesten Begleiter, meine Erinnerung an einen Menschen, der einzigartig bleiben wird.
P.S.: Ich bin dafür, dass jeder Radiosender das Verbot erhalten sollte, Herbert Grönemeyers „Bochum“ zu spielen. Und weiße Schokolade mit Erdbeer-Crisps aus dem Sortiment der Discounter genommen wird.
Headerfoto: Ben Waardenburg via Unsplash License! („Gedankenspiel“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!
Ich glaube, ich habe mich noch nie so sehr in einem Text wiedererkannt.
Bochum, Ort der Liebe und Wut. Und Trauer und Enttäuschung.
Danke für die schönen Worte, Sina.
„Diese Gespräche im Dämmerzustand, im Dunkeln, nachts, viel zu spät, wenn man bloß nicht auf die Uhr schauen will – aber das Herz weit offen ist. Offen, vollends da, so ehrlich und verletzlich, aber so wunderschön.“
Einfach wunderschön! Danke.
Ja – Herz vs. Verstand.
Beeindruckend. Danke.
Liebe Sina.
Es gefällt mir was ich lese, sind es doch Worte, die ich nicht fand – doch sehr nachvollziehbar eigenes Erleben, Erfühlen beschreiben. Danke.
Sehr schön geschrieben. Du sprichst mir aus der Seele.