Blühende Wiesen, fließende Bäche und sich auftürmende Gebirge. Eine glühendrote Sonne versinkt am Horizont. Zwei Wanderer wenden sich dem verglimmenden Licht zu, das sich in den Baumwipfeln und Schluchten verfängt. Die Schönheit und Erhabenheit der Natur erfüllt die Zwei mit einem Glücksgefühl, dem sie hinterhergejagt waren, lange bevor sie sich auf die Wanderung gemacht hatten. Von der Sehnsucht geleitet, streben sie nach Selbstverwirklichung, die sich erst durch Einsamkeit und Konfrontation mit dem einzig Wahren und Guten einstellt: der Natur. Raus aus der Masse, raus aus dem Strom der Mehrheit, die sich verschwommen als Einheit dem täglichen Zyklus des Alltäglichen widmet. Sich gegen die Tatsache wehren, Teil eines Ganzen zu sein, Teil einer sterblichen Spezies. Individualität ist Muss!
Es ist 1818, Karl Friedrich Schinkel befindet sich in der Hochphase seiner Schaffenskraft und hat soeben sein Gemälde “Felsentor” vervollständigt. Es stellt einen Traum dar, den er mit seiner Generation teilt. Die absolute Idylle. Immer auf Leinwand dargestellt, dient sie, zumindest den Privilegierten der Zeit, als Paradies, in das man sich beim Betrachten flüchtete. Nostalgisch portraitierten Künstler wie Caspar David Friedrich, Lessing und Schinkel Landschaften, die es in dieser Form schon damals nicht mehr gab. Ein “früher war alles besser” bestimmte wohl auch anno dazumal die Gespräche.
Viele, viele Jahre später, werden Lehrer tausenden von gelangweilten Schülern in den Deutsch-Unterrichten der Republik, diese Zeit als Epoche der Romantik vorstellen. Schüler, die nur wenig später ihren Rucksack packen, ihrem eigenen Ruf folgen und ein paar Monate danach sonnenverbrannt, Marihuana-erleuchtet und glühend vor befriedigtem Freiheitsdurst in den Sonnenuntergang schauen. Dieser eine Sonnenuntergang, der schon immer auch nur ein Sonnenuntergang war und doch für immer ein Sonnenuntergang, DER eine Sonnenuntergang, bleiben wird, zieht sich als roter Faden durch die Abteilung “Romantik und Renaissance” der Alten Nationalgalerie Berlin. Als wir an den Bildern vorbeilaufen, die es oft nur haarscharf schaffen nicht kitschig zu sein, bemerken wir, wie sich bei uns ein Gefühl des Wiedererkennens einstellt. Beim Betrachten der schmeichelnden Abenddämmerung schießt uns ein Gefühl der Sehnsucht mitten ins Herz!
Ich bin mir sicher, dass die dort auf Leinwand projizierte Emotion gerade eine Art Come-Back feiert! Als Großstädterin von Mitte Zwanzig und ähnlich erlebten Freiheitserfahrungen (siehe sonnenverbrannte Sonnenuntergangs-Pilger) weiß ich, dass uns etwas antreibt. Unzählige Gespräche und Beobachtungen machen eins klar: Unsere Generation flüchtet sich nur allzu gerne in Fantasien, in denen die Reise (“ey, im Herbst fliegen wir drei Monate nach Lateinamerika”), die Selbstverwirklichung (“Ich eröffne nächsten Sommer einen Laden, mache ein Label, usw.”) und die Natur (“Es geht mit dem Bulli nach Schottland, aber dahin, wo keine andern Touris sind”) im Vordergrund der Träume stehen.
Was ist passiert? In den zweihundert Jahren seit der Romantik ist so viel, so unglaublich viel geschehen und trotzdem schauen wir diese Bilder an und fühlen uns ergriffen. Wir können die Maler verstehen! Meine Vermutung ist, dass uns Menschen die immerwährende Sehnsucht in die Wiege gelegt wurde. Tief unten in der Seele ruft ein Lockvogel, manchmal leiser, manchmal lauter, und fordert einen auf, hinauszugehen! Explore, Dream, Discover! Das proklamierte schon Mark Twain in einem seiner berühmtesten Zitate und wir schreien JA! Genau! Nichts wie weg! Der absolute Freiheits- und Glücksmoment ist damals wie heute der beliebteste und doch am schwersten zu erreichende Zustand für uns und trotzdem tun wir alles um ihn (wieder) zu erleben.
Und selbst wenn wir ihn dann erreicht haben, ist der Moment nur von kürzester Dauer und alles, was uns bleibt, ist eins: Die Sehnsucht und die untergehende Sonne.
Headerfoto: Max Rovensky via Unsplash.com. (Gedankenspiel-Button hinzugefügt.) Danke dafür!