„Warum sollte jemand mir Beachtung schenken?“, steht auf dem großen Bogen Papier vor mir. „Er wird sagen: ‚Du bist nicht das, was ich mir vorgestellt habe. Tausend andere sind besser als du.'“ und „Ich könnte auffliegen. Jemand wird merken, dass ich gar nicht so gut bin, wie die Person denkt.“
Ich könnte hier jetzt darüber schreiben, dass meine Haare seit Kurzem blond sind und in unserer Küche neue Regale hängen. Und vielleicht werde ich das noch tun. Aber ich sitze vor diesem Bogen Papier und lese diese Dinge, die eine mir so gut wie fremde Frau aufgeschrieben hat. Ich habe sie gesagt. Davor habe ich sie gedacht. Ich denke solche Dinge sehr, sehr häufig. In diesem Fall ging es um ein Bewerbungsgespräch.
Vor Angst und Nervosität fast wahnsinnig, betrat ich ein absurd riesiges Foyer und traf mich mit einem Mann, der mich nur aus meiner stundenlang perfektionierten Bewerbung und minutiös überdachten Emails kannte. Ich sprach mit diesem Mann, dachte bei jedem Wort, er würde mich gleich auslachen und fortschicken. Und bekam den Job.
Die Frau, die meine Gedanken aufgeschrieben hat, ist Psychologin. Sie arbeitet in der psychologischen Beratung meiner Uni, wo ich seit Kurzem regelmäßig aufkreuze und über meine Gefühle und solche Gedanken spreche. Gedanken, die im Sekundentakt Variationen der immer gleichen Phrase hämmern: „Ich bin nicht gut genug.“
Und diese Gespräche sind vielleicht mein größter Schritt zur 180°-Wende. Zu einer Wende, bei der ich mich nicht von mir selbst abwende, sondern zu mir hin. Zu einem „Ich bin gut genug und ich kann das“, das nicht nur ein Lippenbekenntnis ist. Man kann nämlich seine Haarfarbe, seine Einrichtung, seine Ernährung und sein Leben ändern und trotzdem bleibt alles beim Alten. Oder zumindest das Wichtigste: man selbst. Und das möchte ich nicht. Ich möchte nicht hängen bleiben an Gedanken wie diesen, an Menschen, die solche Gedanken schüren und ich möchte nicht irgendwann dastehen und erkennen, dass ich vielleicht nach außen hin ein neuer Mensch bin, aber innerlich immer noch am selben Fleck stehe.
Die Gespräche mit der fremden Frau helfen mir. Sie helfen mir, mich bewusster mit meinen Gedanken und meinem Handeln auseinanderzusetzen und sie helfen mir dabei, einfach mal zu sagen: „Es ist gut so, wie es ist.“ Dass das so eine bahnbrechende Veränderung für mich bedeutet, ist vielleicht das Ironischste an diesem #newmenovember.
Bevor ein neues Ich entstehen kann, muss man sich, glaube ich, erst einmal bewusst werden, was das „alte“ Ich ist. Was es ausmacht, wie es denkt, fühlt und handelt. Und genau das tue ich gerade. Ich möchte damit ehrlich sein, denn ich glaube, dass Ehrlichkeit ein riesiger Faktor ist. Bei allem. Es ist so leicht, das eigene Bild nach außen komplett zu ändern. Die #socialmediaisnotreal-Aktion ging vor Kurzem durch viele Medien und obwohl ich das Ganze sehr überzogen und hoax-verdächtig finde, will ich nicht die Person sein, die erzählt, dass eine neue Haarfarbe oder irgendein Produkt ihr Leben verändert hat. Was mir wirklich hilft, ist offen sein. Was mir hilft, sind Menschen, die sagen: „Erzähl‘ mir mal was über dich. Was echtes.“ und wenn diese Menschen das auch wirklich so meinen. Mein echtes, „altes“ Ich macht sich verrückt und viel zu viele Gedanken. Es ist getrieben, verunsichert und manchmal auch einfach nur verwirrt. Und das ist okay. Für mein „neues“ Ich ist das okay. Zumindest arbeite ich daran.
Erst kürzlich stand ich mitten in der Nacht an einer Bushaltestelle und führte ein tiefsinniges Gespräch, in dessen Verlauf mir Folgendes klar wurde: Ich bin mit meinen Gedanken und Problemen nicht allein. Deswegen schreibe ich das hier auch auf. Vielleicht haben andere Menschen nicht die gleichen Gedanken und Probleme, aber sich damit zu beschäftigen, auf eine gesunde Weise – es hilft.
Das ist vielleicht nicht der fröhlichste oder lustigste Post dieser Serie, nichtsdestotrotz ist es ein wichtiger für mich. Und wenn ihr euch jetzt trotzdem fragt, warum zur Hölle mein Haupthaar blond ist und was für mysteriöse Regale da in meiner Küche hängen, fear not: Der zweite #newmenovember-Post kommt bestimmt. Bis dahin: Tee trinken und nicht abwarten, sondern machen. Ehrlich sein, drüber reden und einfach mal sagen: Es ist okay.
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Headerfoto: Mert Ekinci!