Eine Nacht in Berlin, zwei Fassaden weniger

Der Schweiß rinnt zwischen meinen Brüsten in Richtung Bauchnabel, während meine Oberschenkel im Takt seines Atems zucken. Einzig und allein die Hitze im Raum überdeckt die Kühle zwischen unseren Seelen. Während ich zweisam einsam neben ihm liege und meine Gedanken sortiere, wünschte ich, sagen zu können, wir hätten Liebe gemacht. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass seine Berührungen nicht mechanisch, sondern liebevoll gewesen sind. Ich wünschte, er würde mir in die Augen schauen, während er mich anlügt.

Ich wünschte, er würde mir in die Augen schauen, während er mich anlügt.

Langsam löst er seinen Arm aus unserer gelernten Umarmung. Zwei Menschen in physischer Nähe, die mental nicht weiter voneinander entfernt sein könnten. Seine Abwesenheit hinterlässt warme Spuren auf meiner Haut, die so schnell verblassen wie Wasserdampf auf einer kalten Scheibe. Er wendet mir seinen Rücken zu und schaut auf sein Handy. Wer bist du? Was steckt hinter dieser Statur? Vor allem aber frage ich mich: Wer bin ich, wenn ich mit dir bin?

Wortlos ziehe ich mich an, ich muss alleine sein. Der Geruch nackter Körper und Ekstase liegt in der Luft, ich mache das Fenster auf und schaue, während ich meine Bluse zuknöpfe, auf die gegenüberliegenden Häuser. Geschlossene Fenster und Türen versperren mich die Sicht auf das Innere. Von außen sind Berlins Häuser solide und kantig, jedem Sturm trotzend. Genauso wie er. Er, der sich nicht öffnet.

Benommen von atemlosen Momenten, fordernden Blicken und kurzer, wenngleich intensiver Körperlichkeit, verlasse ich sein Haus, um mich unter das nächtliche Berlin zu mischen. Der Vollmond erhellt die Straße und leuchtet mir den Weg durch die dunklen Seitenstraßen. Meine Beine fühlen sich an wie Kautschuk, meine Lippen brennen vom Küssen. Ich laufe an Alt- und Neubauten entlang, höre Stimmen aus einzelnen Wohnungen und scheine in diesem Moment ganz alleine in Berlin zu sein. Alleine unter Fassaden.

Geschlossene Haustüren sind wie geschlossene Augen, die jeden Versuch, tiefer ins Innere zu gelangen, versperren.

Einige Hauswände bereiten mir Unbehagen, andere wirken sehr einladend. Geschlossene Haustüren sind wie geschlossene Augen, die jeden Versuch, tiefer ins Innere zu gelangen, versperren. Ich rufe mir sein Gesicht vor. Seine Mimik, die er hat, wenn wir unsere kurzen Sätze wechseln. Er weiß nicht, dass ich ihn oft beobachte, während er sich unbeobachtet fühlt. Wie seine Fassade plötzlich zu bröckeln beginnt, wenn er sich über etwas amüsiert, das er gesehen oder gehört hat.

Seine Lippen berühren meinen Hals, meine Ohrläppchen und meinen Mund. Ich umklammere seinen Nacken und spüre, wie er mir näher kommen möchte. Der Mond wurde binnen der letzten Tage zur Sichel und schafft es gerade noch, unsere Silhouetten und seine grüne Iris leuchten zu lassen. Die mir bereits bekannte Fassade auf der anderen Seite des Hofes wirkt bedrohlich im Halbschatten. Es fällt mir schwer zu entspannen, er spürt das und streichelt über meinen nackten Rücken. Als er zum Reden ansetzt, öffnet sich die Tür des Hauses auf der anderen Seite des Hofes – zum allerersten Mal in all den Monaten, die ich bereits vor diesem Fenster verbrachte.

„Wer bist du?“, fragt er mich mit einem Lächeln auf den Lippen. „Wer sind wir?“, entgegne ich. Nackt und neugierig liegen wir eng nebeneinander und reden bis zum Morgengrauen. Langsam weicht der Mond der Morgensonne, meine Augen blinzeln in Richtung Fenster. Leise stehe ich auf, lege dabei seine Hände vorsichtig auf das weiche Laken. Die Tür steht immer noch offen und gibt den Blick auf einen wunderschönen Innenhof frei, der so gar nichts gemeinsam mit der Front dieses Hauses hat.

Die Nacht hat gezeigt, dass wir immer noch nicht wissen, wer wir sind, wenn wir zusammen sind.

Die Nacht hat gezeigt, dass wir immer noch nicht wissen, wer wir sind, wenn wir zusammen sind. Was wir jedoch wissen, ist, dass wir mehr sind als wir erahnten.

Zwei Fassaden weniger.

Zynisch, nachdenklich und nicht selten liebevoll: So schreibt die Autorin, Texterin und Kolumnistin Linda Rachel über die Liebe, das tägliche Miteinander und ihre Wahlheimat Berlin, in der sie seit nunmehr sechs Jahren lebt und arbeitet. Nach Stationen in Köln und Tel Aviv mauserte sich die deutsche Hauptstadt zu ihrer Lieblingsprotagonistin, die gleichzeitig Schauplatz und zentrales Element diverser Geschichten ist. Mehr von Linda findet ihr bei Facebook, lesend hört und seht ihr sie auf Read!Berlin.

Headerfoto: 42andpointless via Creative Commons Lizenz! (Gedankenspiel-Button hinzugefügt.) Danke dafür.

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