Irgendwann, in der nicht enden wollenden Küchenbegegnung mit meinem neuen Mitbewohner, merkte ich, dass ich dringend aufs Klo musste. Groß. Ich schämte mich dafür wie ein fünfjähriges Kind, was sich in der Bahn hinterm Sitz versteckt und dann übermütig in fremde Gesichter lächelt. Es ist doch verrückt, wie wir von klein auf Lächeln sammeln und Spaß und Spiel zur Vermehrung positiver Gefühle suchen. Doch irgendwann hemmen antrainierte Prinzipien und Tabus die aufgeweckte Freude und verursachen Bauchschmerzen.
Ich kann nicht einfach so aufs Klo gehen.
Es beginnt schon damit, was ich sagen soll. „Ich muss mal aufs Klo“, „Ich muss mal kurz für kleine Mädchen“, „… mir die Nase pudern“ oder einfach gar nichts sagen und wie selbstverständlich den für alle wohlbekannten Zwischenraum aufsuchen? Was, wenn er mich dann hört? Es ist so verdammt still! Außerdem hab ich gestern zu viel blähendes Gemüse gegessen, seit Stunden drücke ich Gase in den Darm zurück. Diese Wohnung ist einfach zu klein und hellhörig. Ich höre meine Mitbewohner ja auch immer, wenn sie auf Toilette gehen und kann dabei mit Gewissheit sagen, was sie tun. Vom Rasieren, übers Zähneputzen bis hin zu großen und kleinen Geschäften. Selbst die Konsistenz, ob hart plumpsend oder weich plätschernd kann ich erahnen, ganz zu schweigen vom Spritzpupsalarm. Warum läuft eigentlich kein Radio? Ich sollte unauffällig das Radio anmachen, vielleicht mit den Worten: „Hey, lass mal Musik hören!“ Dann muss ich taktische fünf Minuten warten, die Schließmuskeln trainieren und das angestaute Gas durch Gedärmbrummeln kompensieren. Aber wie könnte ich diese so lang überlegten Worte, die auf ihren Einsatz warten, jemals locker flockig über die Lippen tanzen lassen, als hätte ich mir spontan überlegt, das Radio anzumachen?
Er lenkt die Situation, während mein Kopfchaos mich handlungsunfähig macht.
„Weißt du, welche Stelle ich bei Frauen am meisten mag?“, fragt er, begleitet von einem tiefen Blick. Wie kann er sowas schon zum Frühstück fragen? Alter, wir wohnen zusammen! Du findest schon noch einen Abend mit Wein und Bier für solche Fragen. Du steuerst das verdammte Gespräch doch absichtlich in diese Richtung, die im Austausch von Körperflüssigkeiten mündet. Und das am besten noch vor zwölf Uhr mittags. Und dann beginnen alle Probleme. Jetzt tust du furchtbar belanglos und unkompliziert, aber am Ende rasen wir ins Gefühlschaos. Wie oft hab ich das jetzt schon in allen Facetten durchgemacht. Noch bevor ich sein Lieblings-Frauen-Körperteil errate, spüre ich seinen Daumen und Zeigefinger um meinen Fußknöchel. „Diese Stelle gefällt mir am besten bei Frauen!“, berichtete er unaufgefordert. „Aha!“, ich schreie etwas zu laut und erschrocken auf. Da hatte er wohl eine erogene Zone gefunden. Zufall? Was soll ich jetzt sagen? Ich bin ja froh, dass er nicht direkt meine Brüste festhält, um anschaulich zu zeigen, welches Körperteil ihm bei Frauen am besten gefällt. Die Gänsehaut schießt vom Fußknöchel bis zur Kopfhaut, die Gedärme verengen und entspannten sich gleichzeitig. Ich kann nicht mehr, ich muss aufs Klo.
„Noch einen Kaffee?“
„Klar“, höre ich mich automatisiert winseln. Wie in Trance krame ich Tabak, Blättchen und Filter heraus. Wo sollte das bloß enden? Ein Kaffee nach der anderen Zigarette, und das seit Stunden. Irgendwann würde die braune Suppe einfach die Schenkel entlang laufen und die gewonnene Intimität fände ihre absolute Hemmungslosigkeit. Frei von Konventionen alles rauslassen und antrainierte Scham ignorieren. „Welches Körperteil gefällt dir denn am besten bei Männern?“ Was für eine Frage, meine Güte, was soll dieses ganze Palaber um Körperteile? Ich liebe Arme, aber irgendwie wirken seine speckig. Ein abtrainierter Handballer, dessen Muskelpracht sich in Fett verwandelt hatte. Vermutlich mag er seine Arme nicht. Ich muss also ein Körperteil finden, das ihn nicht verletzt. Was für ein beklopptes Denken, wozu denn? Damit ich ihm ein kokettes Kompliment zuwerfe? War er nicht selbstverliebt genug? Wollte ich überhaupt mehr von diesem Mann? Wollte ich eigentlich irgendwas außer akut scheißen? Will er ein gehecheltes „Ich liebe den besten Freund des Mannes, vor allem wenn er sich in mir ergießt!“ Vielleicht wäre entwaffnende Obszönität cooler als mädchenhaftes, unsicheres Rumgeschäker. Ich will dem Balzverhalten nicht in adäquater Weise begegnen. „Ich, ich mag, ähm, Adern, Halsschlagadern und Armadern. Wenn Männer klettern, sieht das echt gut aus!“ Verdammt, ich spreche mit ihm wie mit einer Freundin auf dem Schulhof. „Du suchst also Dracula?“ Was für ein Scheißspruch! Aber warum fällt mir keiner ein? „Mhimhi.“ Schüchternes Lachen geht eigentlich immer. Ich erinnere mich an meinen Vorsatz: „Ich habe das Ruder in der Hand und lenke immer in die von mir angesteuerte Richtung.“
Was steuer ich an? Eine Bekanntschaft, Freundschaft, Beziehung, Affäre?
Ich habe gerade erst eine Trennung hinter mir und dachte, mir stünde ein Trauerjahr bevor. Ich dachte auch, die einzige Alternative dazu wäre, mein Ex würde vor meinem Fenster ein Versöhnungslied singen und mir dabei einen Antrag machen. Seit Tagen lass ich mein Fenster offen. Dabei weiß ich, wenn er zurück käme, dann mit den trockenen Worten: „Wenn du willst, probieren wir’s nochmal!“ Der neue Mitbewohner hingegen singt bestimmt Lieder vorm Fenster! Vielleicht war sein Einzug ein Schicksalsgeschenk gegen Trauer und verhieß: „Schmeiß dein Leben nicht weg, schmeiß dich ran!“ Ich erwache aus dem Gedankennetz und wundere mich, dass wir noch in der Küche sitzen. Was wir sagen, höre ich. Was wir meinen, sehe ich auf der Gedankenleinwand meines Kopfkinos. Im Film war der Tisch nicht mehr zwischen, sondern unter uns. Noch hatte ich das Ruder in der Hand, wenn ich es nur anpacken könnte! Aber zum Steuern fehlt jedes Ziel. Das Ziel zu besprechen wäre hysterisch. Er würde behaupten, gar kein Ziel zu haben. Wenn ich nur gelernt hätte, die Geschichten zu meinen Gunsten zu lenken und nicht ungesteuert ins nächste Herzchaos zu rasen. NEIN!
Da war es. Bei aller Anstrengung, das menschlichste Bedürfnis in die inneren Darmschleifen zu drücken, ging wohl etwas daneben. „I’m touching cloth“, sagen die Engländer. Ein ganz schlechtes Omen.