Es ist irgendwann am Abend, ich weiß nicht, welche Zeit die Uhr schlägt, aber ich sehe, dass sich die Sonne bereits hinter die Hochhäuser verabschiedet hat. Der Himmel tönt in Orange, Blau und einer Spur Lila. Ich habe meinen Rucksack auf den Stuhl geschmissen, dessen linkes Bein ich schon längst reparieren wollte. Er knartscht immer so sehr, wenn sich Besucher:innen drauf setzen. Ich überlege, wann ich zuletzt Gäste in meinem kleinen Zuhause hatte. Die Jacke habe ich über die Arme auf den Boden gleiten lassen. Die Musik läuft.
Schlaf steht mir zu, sagt mein Arbeitsvertrag. Oftmals denke ich, das sind doch nur leere Zeilen.
Ich möchte direkt das Geschirr spülen, das ich in der Spüle geparkt hatte. Am Tag zuvor, als ich mich auf den Weg in die nächste Schicht gemacht habe. Rückblickend muss ich jetzt laut lachen, während das Wasser läuft. Eine Freundin fragte, ob ich an diesem Abend Zeit für sie hätte. Ich schrieb ihr, dass das gut passen würde, vorausgesetzt ich müsse dieses Mal keine 26 Stunden auf der Arbeit verbringen. In diesem Moment, als ich so vor mich hin schmunzle, wird mir wieder einmal bewusst, dass man seine Wünsche ans Universum sehr viel konkreter formulieren muss. Ich bekam, was ich hinaus wünschte: es waren keine 26 Stunden, nein, ich konnte nach 27 Stunden aus der Arbeit raustaumeln. Schlafen war heute wieder einmal nicht möglich. Schlaf steht mir zu, sagt mein Arbeitsvertrag. Oftmals denke ich, das sind doch nur leere Zeilen.
Glück im Stadtviertel
Wieder einmal bin ich Richtung Feierabend durch das Viertel zur U-Bahn geschlendert, in dem schon morgens um 9 Uhr in irgendeiner Wohnung in den Betonblöcken der Alarm losgeht. In dem sich die Substituierten vor dem Platz der Ambulanz tummeln, ihre Lebens- und Leidensgeschichten teilen, und sich gelegentlich auf die Schulter klopfen, während sie ihre Kippen am Mülleimer ausdrücken. In dem der unbekannte Monsieur zu jeder Tageszeit laut schreit. Die zuständige Behörde sagte, man könne erst einschreiten, wenn er aktiv um Hilfe rufen würde. Das tut er nie. In dem die kleinen Omis ihre Einkaufstrollies bereits um 7 Uhr morgens zum Supermarkt schieben.
Oftmals hört man Rosa, die Kassiererin mit den roten kurz geschorenen Haaren, bis auf den Vorplatz hinaus auf Italienisch und Deutsch fluchen.
Oft hört man Rosa, die Kassiererin mit den roten kurz geschorenen Haaren, bis auf den Vorplatz hinaus auf Italienisch und Deutsch fluchen. Immer dann, wenn sich die Schiebetür öffnet. Ich mag Rosa. Rosa sagt immer sofort, was sie denkt. Manchmal sitzt Rosa mit dem Kopf in den Händen an der Kasse, vor sich hin schimpfend, um den Menschen klar zu machen, dass sie frustriert ist. Rosa lacht aber auch viel und ist immer zu Scherzen aufgelegt. Bei kleinen Kindern geht ihr besonders das Herz auf. Für die nimmt sie sich Zeit und schneidet Grimassen. Ich finde, Rosa macht alles richtig. Sie ist sehr herzlich und nimmt sich trotzdem das Recht zu schimpfen. Über das Leben, die Menschen, die Zeit, den kaputten Scanner an Kasse 1.
Kalendersprüche
Ich stehe an der Spüle und versuche mit dem quietschgrünen Schwamm die Nudelreste aus dem Topf zu bekommen, als mein Blick auf den Kalender vor mir fällt. Ich hätte das Blatt für den neuen Monat schon Tage zuvor umdrehen sollen. Ich hatte vergessen, dass es bereits wieder einmal so weit ist. Den Kalender bekam ich irgendwann in diesem Jahr von einer guten Seele geschenkt. Als ich mit schaumigen Händen den Spruch lese, sage ich laut zu diesem Blatt Tonpapier: „Ach, fick dich“. In großen unterschiedlichen Lettern steht „Vielleicht finden wir das wahre Glück erst dann, wenn wir glücklich mit uns selbst sind.“. Es ist nicht der Kalender, der mich stört. Es ist das Vielleicht. Es ist das Glück. Es ist das Wahre. Was ist denn das eigentlich? Ich bin müde. Und trotzdem habe ich noch genug Energie, um mich darüber zu ärgern.
Ich versuche seit langer Zeit, an meinem persönlichen Glück zu arbeiten.
Ich versuchte seit langer Zeit, an meinem persönlichen Glück zu arbeiten. Ständiges Nachjustieren. Ständiges Aussortieren. Ständiges Optimieren. Ständiges Ausprobieren. Ich habe es geschafft. Ich bin glücklich und das war ein langer Weg dorthin. Das flog mir nicht einfach so zu, ich habe viel dafür getan. Ich finde es so paradox. Wenn ich doch mit mir selbst glücklich bin, warum muss ich dann überhaupt noch nach etwas suchen? Warum ist es verkehrt, mit dem glücklich zu sein, was man hat? Mit dem, wer man ist? Warum muss da noch etwas anderes stehen? Jemand anderes? Für wen? Nur ich selbst kann für mich das wahre Glück sein. Fick dich, Kalenderspruch.
Es gab keine falschen Entscheidungen für mich
Mir ist in den letzten Monaten aufgefallen, dass viele so denken wie die Person, die sich die Weisheiten auf den zwölf Kalenderblättern ausgedacht hat. Nicht alle davon sind des Schimpfens wert. Ich habe in so einigen Deep Talk-Momenten genau diese Haltung in die Runde geworfen und in Frage gestellt. Weil ich nicht nur einmal zu hören bekommen habe: „Du verdienst so viel Besseres.“. Es waren keine Gespräche, in denen ich gejammert habe. Es waren Gespräche, in denen ich von Entscheidungen erzählt habe, von dem, was ich für meine Arbeit gegeben habe, von Persönlichkeiten, von Erlebnissen, von meinem aktuellen Leben. Ich habe niemals in Frage gestellt, dass daran irgendetwas falsch sein könnte. Meine Gegenüber schon. Für mich sind es Gegebenheiten, die zu meinem Leben, zu meinem Glück dazugehören. Keine Geschichte dieser Welt mit Happy End kann bestehen, wenn es nicht auch ab und an Zeilen gegeben hätte, die eben nicht in bunten Farben geschrieben worden sind.
Keine Geschichte mit Happy End kann bestehen, wenn es nicht auch Zeiten gegeben hätte, die eben nicht in bunten Farben geschrieben worden sind.
„Du verdienst so viel Besseres.“ Angesprochen auf diesen Kommentar konnte mir niemand sagen, was genau denn das Bessere sei. Ich habe gefragt, ob ich nicht genug bin. Ob mein Leben nicht genug sei. Wer überhaupt das Recht habe, darüber zu urteilen. Es gab nie eine Antwort. Mich hatte das geärgert und doch habe ich immer geschwiegen. Weil ich wusste, dass diese Menschen mich das ausprobieren lassen wollten, was sie sich selbst nicht, mir aber zugetraut haben. Dass sie Dinge anders machen als ich. Anders ist oftmals schwierig zu akzeptieren. Dass sie Wünsche für mich haben, die nicht meine sind. Erwartungen, die ich nicht erfüllen werde. Dass sie nicht wissen, wo ihre Grenze anfängt und meine aufhört.
Ich bin für mich das wahre Glück
Ich habe die Menschen verabschiedet, für die ich meine wenige Zeit genommen habe, um ihnen zuzuhören. Die, die wollten, dass sich mir Zeit für sie nehme, nicht für mich selbst. Die, die wussten, dass ich müde bin. Die ihre Verantwortung für ihr eigenes Glück, oder eben Pech, immerzu in das Außen schieben. Oftmals zu mir rüber. Nie aber bei sich selbst geschaut haben. Die, die mit sich selbst gar nicht glücklich sein wollen. Die, die darüber urteilen, was jemand anderes Glück ist. Das vielleicht wahre Glück. Ich muss an den Monsieur denken, der stetig schreit, aber nie um Hilfe. Ich muss an Rosa denken, die zügig dafür sorgt, dass sie wieder glücklich ist. An die Seelen vor der Ambulanz, die nicht über ihre Kumpanen urteilen.
Ich bin nicht perfekt. Ich bin glücklich.
Ich bin nicht perfekt. Ich könnte weniger arbeiten. Mir einen neuen Job suchen. Könnte weniger Kaffee trinken. Ich könnte mir Dinge weniger zu Herzen nehmen. Ich könnte weniger rauchen. Mein Radar könnte noch ein klein wenig besser sein, was die wirklich guten Seelen anbelangt. Ich könnte noch mehr in die Altersvorsorge stecken. Ich könnte mir einen neuen Partner suchen. Ich könnte eine Familie gründen. Ich könnte wieder in eine andere Stadt ziehen. Ich könnte meine Haare wieder dunkler färben. Ich könnte weniger in Bars herumlungern. Ich könnte weniger fluchen. Ich könnte so vieles, was andere wollen. Ich bin nicht perfekt. Ich bin glücklich. Ich bin für mich das wahre Glück.
Headerfoto: Ivan Samkov (Kategorie-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür!