Wenn es dunkel und kalt wird, dann wirkt ein Buch noch mehr wie ein:e Freund:in. Etwas, das in umarmender Ruhe auf einen wartet, dann an die Hand nimmt und fremde Räume zeigt, die wir leicht wiederfinden. In strapaziösen Zeiten unvermeidbar! Nur sollte man sich dafür die passenden Werke eingeladen haben. Die folgenden Bücher sind bestens geeignet.
Anke Stelling – Grundlagenforschung
In diesem Erzählband schreibt Anke Stelling in ihren Geschichten von Erwachsenen, die das Erwachsenwerden hinter sich haben. Und sich nicht danach sehnen, jünger zu werden. Aber sie sehnen sich. Nach irgendetwas. Jede:r von ihnen.
Und das nutzt die Autorin vorzüglich aus, indem sie ihre Held:innen aufs Land zum Familienurlaub auf einen Bauernhof schickt, in ein Ferienhaus und zu Partys, wo sie ihr Date zum ersten Mal begleiten. Es schwebt immer eine gewisse Bissigkeit in ihnen. Weil es Gedankenströme sind. Die nicht zynisch sind, sondern – manchmal eben auch brutal – klar sind. Und wie die Personen dann trotz dieser Gedanken handeln, ist nie vorauszusehen und stellt sich immer als authentisch dar. Wie auch sonst.
Anke Stelling schafft im schnellen und scharfen Erzählststil Symbolszenen einer Gesellschaft, die so literarisch erforscht werden kann, was ziemlich viel Witz und vor allem Spaß mit sich bringt.
Anke Stelling – Grundlagenforschung
Verbrecher Verlag, Berlin, 2020
Hardcover, 192 Seiten, 20,00 €
ISBN: 9783957324474
Cover links: Verbrecher, Cover rechts: Kiepenheuer und Witsch
Maxim Biller – Sieben Versuche zu lieben. Familiengeschichten
In Zeiten der kritischen Auseinandersetzung mit den Theorien der Postmoderne ist es wichtig, dass eine Gesellschaft ihre Überzeugungen überarbeitet, ausdiskutiert, sich damit auseinandersetzt. Auch, wenn es bedeutetet, dass die – für manche zutreffende – Beruhigung, dass etwas für alle Zeiten festgeschrieben sein soll, ungültig ist. Geschichten müssen immer wieder neu erzählt werden.
Wer das besonders gut kann, ist vermutlich Maxim Biller. In seinem Fokus steht das, was Biller kennt: Familie, Juden, Literatur und Emigration. Und wenn einem das Werk Billers bekannt ist, weiß man spätestens seit seinem Buch Der gebrauchte Jude, dass er genau darüber erzählen möchte. Über Juden, sein Leben als Jude in Deutschland und seine Familie. Darum auch der Untertitel „Familiengeschichten“.
Stofftreibend spannen billerstilistische Hauptmotive immer wieder die Rahmen seiner Erzählungen: die Wahrheit und das Lügen und das Geheimnis. In sieben Erzählungen erzählt Biller unter diesen Bedingungen über Intrigen in der attraktiven Mikroform der Gesellschaft: „Die Familie.“
Die im Klappentext vorgestellte Geschichte Ein trauriger Sohn für Polok wird mit dem großartigen Satz beschrieben: „Milan Holub hatte das Leben meines Vaters zerstört, und als mir eines Tages ein Verlag sein neues Buch zur Beurteilung schickte, beschloss ich, Rache zu nehmen.“
Maxim Biller schafft es, gleichsam einfach und bildhaft ein Spiel der Wahrheiten und Emotionen auftreten zu lassen, das sich am Ende doch ganz klar auflöst. Aufregend.
Maxim Biller – Sieben Versuche zu lieben. Familiengeschichten
Kiepenheuer und Witsch Verlag, Berlin, 2020
Hardcover, 368 Seiten, 22,00 €
ISBN: 978-3-462-05437-8
Stefanie Sargnagel – Dicht: Aufzeichnungen einer Tagediebin
Stefanie Sargnagel erzählt in ihrem Debütroman von ihrer Jugend in Wien zwischen Schule, Park, WG und „Beisl“.
Dicht legt Drogen, absurde Geschichten, Kunst, Gefühle und Geheimnisse auf den Tisch. Immer wieder tauchen Charaktere auf, die man vor Wut wegstoßen – oder aber fest in den Arm nehmen möchte.
In Dicht schreibt Stefanie Sargnagel so rigoros wien-typisch, dass sie Leser:innen, die nicht aus Wien kommen, den Eindruck vermittelt, sie hätten selbst ihre Jugend dort verbracht. Denn dieses Buch liefert mehr als eine persönliche Erinnerung, es ist ein Identifikationsangebot und fernab davon: beste Unterhaltung!
Stefanie Sargnagel – Dicht: Aufzeichnung einer Tagediebin
Rowohlt Hundert Augen Verlag, Hamburg, 2020
Hardcover, 304 Seiten, 20,00 €
ISBN: 978-3-644-00177-0
Cover links: Rowohlt Hundert Augen, Cover rechts: Matthes und Seitz Berlin
Anne Weber – Anette, ein Heldinnenepos
Annette heißt eigentlich Anne Beaumanoir, geboren in den 1920ern in Frankreich. Was so liebevoll und zart beschrieben wird, wie die Kinderfüße, die sich in dem südwestlich Frankreich auf dem Land bewegen, wird schnell ein radikaler und inspirierender Heldinnenepos. So betitelte Anne Weber ihr Werk, für das sie 2020 den Deutschen Buchpreis bekam.
Beschrieben wird der Kampf der Résistance in Frankreich gegen den Nationalsozialismus, das Angehören der Kommunistischen Partei, der Glaube an die eigenen freien Ideale, die Anette schließlich zum zweiten Mal in den Kampf schicken zum FLN für die Freiheit Algeriens.
Anne Weber hat bei weitem keine Biografie über das ereignisreiche und spannende Leben ihrer Heldin Anette geschrieben. Sie hat ihr Leben aufgeschrieben, das schon, aber gleichzeitig ein psychologisches Modell einer Widerstandskämpferin konstruiert, die erst gegen den Faschismus und Nationalsozialismus in Frankreich kämpfte, um dann zu erkennen, dass der Kampf gegen die Barbarei noch lange nicht ausgefochten war.
Gleichermaßen ist es wie ein leichter Gesang über Widerstand, Ungehorsam, Rebellion und Menschlichkeit. Zeitgleich spiegeln sich auf diesen 200 Seiten die Absurditäten der Systemungerechtigkeiten wieder: Die Europäer haben Hitlers Folter verurteilt und unterdrücken dennoch Völker in ihren Kolonien. Ihre Heldin bleibt ein verletzbarer, hin und wieder zweifelnder Mensch, der liebt und leidet und doch kämpft.
Es mag zwar die Geschichte von Anne Beaumanoir sein, die Anne Weber in diesem ganz und gar unkonventionellen Roman besingt. Aber vielmehr ist es die Geschichte jener Menschen, die ihr Leben einer Sisyphosaufgabe verschrieben haben: Gerechtigkeit zu schaffen. Das ist mitreißend, berührend und einfach faszinierend.
Anne Weber – Anette, ein Heldinnenepos
Matthes und Seitz Berlin Verlag, Berlin, 2020
Hardcover, 208 Seiten, 22,00 €
ISBN: 978-3-95757-845-7
Ali Smith – Winter
Es geht in Winter zwar um Weihnachten, doch die Zeit ist nicht einmal atmosphärisches Mittel, höchstens auf der Oberfläche, was gut ist. Denn damit wird viel mehr offenbart: Es geht um die verdichtete Sozialintensität der Familie. Und die Mikrogeschichten, die Großes erzählen und aufeinandertreffen und sich doch anders ausdrücken, als sie es vielleicht wollen.
Daneben schildert Ali Smith auf wunderbar eindringliche Weise das laute große Weltgeschehen, knapp wie eine Nachrichtensprecherin, bis sie wieder in die Köpfe ihrer Protagonist:innen kehrt.
Da sind Arthur „Art“, der eigentlich an Weihnachten mit seiner Freundin Charlotte anreisen wollte, sich aber vorher trennen musste und nun eine Frau, die er zwar mag, aber bezahlen muss, damit sie sich als Charlotte ausgibt, der Familie zeigt.
Arthur, dem klassische Millenial Freelancer steht seine Tante Iris gegenüber, die seit 40 Jahren Aktivistin für jeden nur denkbaren guten Zweck ist: gegen Atomraketen, gegen Umweltverschmutzung, für die Aufnahme von Geflüchteten.
Die Eigenarten der Familie werden auch durch Arts Mutter und seine Schwester Sophia weitergetragen und lassen aus dem Weihnachtsfest ein wirkliches „Aufeinandertreffen“ werden. Das Politische und Gesellschaftsanalytische, das von Ali Smith immer wieder in kurzen Abschnitten mit eingebracht wird, wenn sie etwa von Donald Trump und dem Brexit schreibt, dient dabei als roter Faden. Die Gesellschaft draußen als Parallele zu denen, die im Haus zusammensitzen.
Unterschiedlichste Persönlichkeiten, Glaubenssätze und Fragen, vereint in einer Familie. Ali Smith gelingt es grandios, dieses Spannungsfeld liebevoll und gleichzeitig wahnsinnig spannend zu beschreiben.
Ali Smith – Winter | Aus dem Englischen von Silvia Morawetz
Luchterhand Literaturverlag, München, 2020
Hardcover, 320 Seiten, 22,00 €
ISBN: 978-3-630-87579-8
Cover links: Luchterhand Literaturverlag, Cover rechts: Lektora
Florian Wintels – Offensichtlich hatte Steffi ihren Laptop mit dabei.
Balladen über gebeutelte und weise Menschen, ihre Sehnsüchte und die Liebe in jedem Tag. Geschichten über Unterdrückte des „Normalolebens“, Storys und Songs über einsame Männer, die etwa vor dem Fernseher hängen und irgendwie das Glück finden.
Erzählungen, die gesellschaftliche Langzeitstudien sein könnten, komprimiert in einem lockerleichten Storytelling und immer sind es alltägliche Beobachtungen, die den Texten in Offensichtlich hatte Steffi ihren Laptop mit dabei ihre Energie und Schönheit verleihen.
Florian Wintels ist einer der vielschichtigsten Bühnenpoeten des deutschsprachigen Raumes. So ist auch seine Texsammlung keine reine Ansammlung seiner besten Texte. Nein, es ist vielmehr ein Abend mit Florian Wintels. Selten schaffen es solche Werke, das Flair eines Bühnenprogramms beim Lesen zu vermitteln. Florian Wintels gelingt es aber mit Bravour.
Der Erzähler steht dort manchmal in gespielter Unsicherheit auf der Bühne, fährt sich durch das Haar, holt manchmal seine Gitarre heraus und präsentiert neben Gedichten seine Songs, singt und tanzt. Und, vermutlich dem Performancedrang geschuldet, begleiten diverse und zum Teil einfach nur lustige „Ansagen“ zwischen den Stücken das Publikum, also die Leser:innen. Man sollte dieses Buch in einem Sog durchlesen. So wird es zu einem wirklichen Showerlebnis!
Florian Wintels – Offensichtlich hatte Steffi ihren Laptop mit dabei
Lektora Verlag, Paderborn, 2020
Broschur, 124 Seiten, 13,90 €
ISBN: 978-3-95461-164-5
Louise Glück – Averno
Averno – so heißt ein kleiner Kratersee, zehn Meilen westlich von Neapel, der bei den alten Römern als Eingang in die Unterwelt galt.
Auch Louise Glück, die gerade erst verkündete Literaturnobelpreisträgerin, geht in ihrem Gedichtband in die Unterwelt. Die psychische, ihre eigene und die, die ihre Umwelt ausmachen, stehen als lyrische Konjunktive parat, werden zart angefasst und doch ins Bild geschoben.
Gedankenkreise schweben über Emotionen und parallel dazu werden nüchterne Geschichten erzählt. Es ist typisch für ein Gedicht nun einmal komprimiert zu sein, aber es ist ein großes Kunststück, wie Louise Glück Alltägliches so zu verschriftlichen, dass es Freude macht, die leichte Verpackung ihrer Sprache aufzupacken, um in den Geschichten des Bandes Averno weiterzutreiben, oft in Form von Langgedichten, sich und seine Mitmenschen und seine eigenen Gedanken selbst zu erkennen, auch wenn sie aus der Unterwelt kommen.
Denn dort will Louise Glück auch hin. Und wieder hinaus.
Ulrike Draesner transportiert diese Dynamik dazu feinfühlig ins Deutsche. Schließlich ist Averno eine sprachliche Reise, eine Sinneswanderung und einfach: eine große Freude.
Louise Glück – Averno | Übersetzt aus dem Amerikanischen von Ulrike Draesner
Luchterhand Literaturverlag, München, 2007
Hardcover, 176 Seiten, 16,00 €
ISBN: 978-3-630-87251-3
Cover links: Luchterhand Literaturverlag, Cover rechts: Aufbau Verlag
Lene Albrecht – Wir, im Fenster
Leila und Linn, im Wortklang schon unzertrennlich, verbindet eine gemeinsame Freundschaft. Ein Aufwachsen im Berlin kurz nach der Wiedervereinigung. Ausschweifend und sprachlich leichtfüßig beschreibt Lene Albrecht die Schritte der beiden Mädchen durch die klebrigen Straßen, vorbei an Parks, hinein in die Gedanken und Geheimnisse einer Stadtjugend und innigen Freundschaft.
Immer wieder wechselt Albrecht dabei zwischen Außen- und Innenperspektive. Betrachtet die Erzählerin und Leila, wie sie in der Handlung stehen und selbst wenn sie rennen, dem Geschehen eine Pause geben.
Aber nicht nur diese Perspektiven spielen in Wir, im Fenster eine entscheidende Rolle. Auch die Blicke, die den beiden heranwachsenden Mädchen zugeworfen werden, werden durch eine unruhige Perspektive beschrieben, dass man selbst beim Lesen nervös wird.
Selbst, wenn man keine Beweise für die Intention eines zugeworfenen Blicks hat, geben die Gedanken doch eigentlich Urteile vor. Nicht so bei Linn. Sie bleibt staunend daneben. Beobachtet ihre Freundin von der Seite. Dazu rast die Zeit vorbei. Das Älterwerden, das Erforschen des Körpers und der Lebensfreude. Bis ein Vorfall das Geschehen aus dem Gleichgewicht bringt und verändert. Sprachlich und Emotional.
Lene Albrecht gelingt mit Wir, im Fenster ein sprachlicher Tanz zwischen Erinnerung und Jetzt, bei dem man nicht wegsehen kann.
Lene Albrecht – Wir, im Fenster
Aufbau Verlag, Berlin, 2019
Hardcover, 223 Seiten, 20,00 €
ISBN: 978-3-351-05065-8