Wie kann es sein, dass ich als Frau nachts die Straßenseite wechseln muss?


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Es ist gerade Mitternacht als ich aus der Straßenbahn aussteige, 170 Meter von meiner Haustür entfernt. Auf dem Gehweg sehe ich eine Gruppe von jungen Männern, die eine Flasche herumreichen. Ich laufe also instinktiv auf der Straße, um einer unangenehmen Situation zu entgehen. Sie sehen mich trotzdem und fangen an, wie Wölfe zu jaulen und zu grölen. Ich habe nicht genau hingehört, sondern laufe einfach schnell weiter nach Hause.

Und dann, 50 Meter weiter, schneidet mir die nächste Gruppe Heranwachsender den Weg ab. „Du bist hübsch“, sagt einer zu mir. Ich reagiere nicht und laufe – ein Grund für die vier Männer andere Töne anzuschlagen. Plötzlich mutmaßen sie, wie meine „Muschi riecht“ und beleidigen mich. Ich werde wütend, beiße mir aber auf die Zunge und laufe einfach weiter, weg von den pöbelnden Idioten.

Von der Tramhaltestelle bis zu meiner Wohnung brauche ich genau zwei Minuten. Wie kann es sein, dass man in Berlin innerhalb von zwei Minuten zweimal belästigt wird?

Von der Tramhaltestelle bis zu meiner Wohnung brauche ich genau zwei Minuten. Wie kann es sein, dass man innerhalb von zwei Minuten von zwei unterschiedlichen Männerrunden in Berlin belästigt wird?

Mir ist ja nichts zugestoßen, halb so wild, passiert ständig – mit diesen Gedanken beruhige ich mich daheim. Und genau das ist der eigentliche Aufreger: Wir Frauen haben schon akzeptiert, dass wir im Alltag ständig dumm angemacht werden.

Wenn wir nachts eine Gruppe Männer sehen, dann rechnen wir ja schon mit mindestens einem anzüglichen Witz. Wir haben Schutzmechanismen entwickelt, zum Beispiel eben auf der beleuchteten Straße gehen, ein Telefonat vortäuschen und auf jeden Fall eh das „Sprich mich nicht an“-Gesicht aka das Resting Bitch Face aufzusetzen – doch dass es so weit ist, ist schlichtweg traurig und erschreckend.

Immer wieder heißt es, dass wir in Deutschland hohe Sicherheit genießen, doch das stimmt einfach nicht.

Immer wieder heißt es, dass wir in Deutschland hohe Sicherheit genießen, doch das stimmt einfach nicht. Frauen, Menschen mit homosexuellem oder LGBT-Background und Leute mit Behinderung werden immer wieder belästigt. Und zwar auf offener Straße.

Zwar verschwimmen die Grenzen zwischen Beleidigung und sexueller Belästigung und die individuelle Auffassung, was nun sexualisierte Gewalt ist, sowieso – im Gleichbehandlungsgesetz ist das ganz klar festgelegt.

Nach der gesetzlichen Definition in § 3 Abs. 4 AGG ist ein Verhalten eine sexuelle Belästigung, wenn es sich um ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten handelt und dieses Verhalten bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird. Miteingeschlossen sind Äußerungen, Gesten, Blicke und körperliche Berührungen.

Im Jahr 2015 hat die Cornell Universität die bisher größte weltweite Umfrage zu Belästigungen im öffentlichen Raum durchgeführt, die Ergebnisse für Deutschland sind heftig:

85 % der Frauen gaben an, Belästigung im öffentlichen Raum erfahren zu haben, bevor sie 17 waren. 66 % der Frauen wurden im letzten Jahr unangemessen und gegen ihren Willen berührt, 70 % fanden sich im letzten Jahr in einer Situation, in der ihnen ein Mann oder eine Gruppe von Männern auf eine Art und Weise folgte, die sie sich unsicher fühlen ließ.

Über die Hälfte der Teilnehmenden berichteten, dass Belästigungen im öffentlichen Raum (oder die Angst davor) dazu geführt haben, dass sie weniger unter Leute gingen.

Über die Hälfte der Teilnehmenden berichteten, dass Belästigungen im öffentlichen Raum (oder die Angst davor) dazu geführt haben, dass sie eine andere Route nahmen oder ein anderes Transportmittel benutzten, eine Veranstaltung zu einer anderen Zeit verließen, oder weniger unter Leute gingen.

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Ich rufe bei der Polizei Berlin an und möchte wissen, was ich in so einer Situation – wie ich sie letzte Nacht erlebte – machen kann. Der Mann an der anderen Leitung reagiert empathisch und erklärt mir, dass ich nicht Opfer einer sexistischen Bagatelle wurde, sondern einer Straftat und die Männer anzeigen soll.

Grundsätzlich habe ich instinktiv alles richtig gemacht, in dem ich dem Problem so schnell wie möglich aus dem Weg ging – doch ich hätte direkt die 110 anrufen können, damit die Streife die Jungs abfängt. Damit nicht noch andere Frauen und Mädchen von den jungen Männern belästigt werden.

Anzeige erstatten, darüber sprechen, das ist auch das Ziel der internationalen Bewegung Hollaback!’s : Auf der Homepage schreiben Frauen, wo, wann und wie sie sich belästigt gefühlt haben. Ein Meldesystem und gleichzeitig ein Forum für Betroffene. „Hollaback! (engl.: „Brüll zurück“) ist eine internationale Bewegung von lokalen Aktivisten und Aktivistinnen, die Belästigungen im öffentlichen Raum beenden will.

Wir arbeiten zusammen, um die Hintergründe von Belästigungen besser zu verstehen, Bewusstsein zu schaffen und gemeinschaftlich Lösungen zu bieten.“, beschreibt sich die Organisation selbst.

Die Aktivisten und Aktivistinnen der Hollaback-Organisation distanzieren sich ganz klar davon, die Belästigungsthematik mit der der Geflüchteten zu verknüpfen.

Warum ich mich auf der Seite auch so gut aufgehoben fühle: Weil die Aktivisten und Aktivistinnen sich ganz klar davon distanzieren, die Belästigungsthematik mit der der Geflüchteten zu verknüpfen. „Aus den Erzählungen von Belästigungen, die uns täglich erreichen, und aus aktueller Forschung wird deutlich: Menschen, die andere belästigen, haben alle möglichen ethnischen und sozioökonomischen Hintergründe.

Vielmehr wird Belästigung durch eine ungleiche Gesellschaft möglich gemacht, die die Freiheit einiger Personen zu Mobilität und Sicherheit beschränkt und damit zu ungleichem Zugang zu öffentlichen Räumen führt.“

Ich sehe keine Hautfarbe oder Herkunft, wenn mich jemand belästigt, ich sehe nur Ungerechtigkeit.

Headerfoto: Frau mit Mütze (Stockfoto) via JKstock/Shutterstock. (Gesellschaftsspiel-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

Text: Edith Löhle.

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