Wie ich mich durch die Lebensflut kämpfte, um endlich im Fluss, endlich frei zu sein

Wir sitzen gemütlich am Fluss. Die Wellen plätschern leise. Das Wasser rauscht beständig. Es kommt gerade von irgendwoher an uns vorbei, um danach seiner Bestimmung folgend seinen Weg zu gehen. Der Fluss ist immer da. Nie werden es jedoch dieselben Tropfen sein, die eben jenes Stück Fluss ausmachen, an dem wir hier gerade sitzen.

Es ist zu warm für solche Gedanken, denke ich mir, und dann denke ich mir, ich möchte jetzt gern im Fluss sein. Das bedeutet für mich aber momentan nicht, meinen Körper mit dem doch sehr brackigen Nass der Chemnitz zu benetzen. Nein, das bedeutet eher, dass ich das morastige Steinrinnsal in mir transformiere.

Loslassen – wie geht das?

Denn ich bin nicht im Fluss. Nicht wirklich. Obwohl ständig alle sagen, wie wichtig es wäre, im Fluss zu sein. Es einfach alles fließen zu lassen. Loszulassen. Einfach mal Fünfe gerade sein lassen und einfach mal abschalten. Das Leben genießen und runterkommen. Die Beine und die Seele baumeln lassen und nur entspannen. Den Sorgen keinen Platz einräumen. Sich mit schönen Sachen ablenken. Ruhig durch die Hose atmen und sich lockerflockig treiben lassen. Alles Mögliche soll ich lassen. Alles Mögliche soll ich tun.

Und nun liege ich hier auf der halb aufgeblasenen Luftmatratze meines Lebens im ausgetrockneten Flussbett zwischen den bemoosten Felsbrocken, dem Unrat und den kleineren Steinen, die sich mir von unten in den Rücken bohren. Mit einem Glas abgestandenem Bier in der Hand treibe ich so mühsam stromabwärts und stoße beim Trudeln immer wieder mit dem Kopf gegen vorbeikommende Felsen. Es macht so viel Freude, wie im Herbst Schlitten zu fahren. Lange Zeit bin ich auf diese Art und Weise durch den Kanal der Zeit gereist.

Wie viele habe ich mich gefragt, wo denn endlich der Zufluss bliebe. Die Energie und die Freude.

Wie viele habe ich mich gefragt, wo denn endlich der Zufluss bliebe. Die Energie und die Freude. Das Flussbett war ausgetrocknet. Man sollte doch eigentlich Surfen und nicht Waten. Im Regen tanzen und keine Erkältung bekommen. Doch auch bei schönstem Wetter saß ich am Fluss und trieb innerlich vor mich hin.

Bis ich aufstand.

Erst als ich mich von der Luftmatratze erhoben und das schale Bier neben mich gekippt hatte, bemerkte ich, dass ich nur knöcheltief im Wasser stand. Ich musste herausfinden, was geschehen war. Also machte ich mich auf den Weg stromaufwärts. Auf den Weg zurück zur Quelle.

Zurück zur Quelle

Ich musste lange über das unwegsame Gelände des Flussbetts wandern, Glasscherben und Plastemüll umschiffen über scharfkantige Steine und glitschige Baumstämme klettern. Nicht selten ohne Verletzungen. Je näher ich der Quelle kam, desto unwegsamer aber auch klarer wurde der Weg. Bis ich eines Tages vor einer riesigen Wand aus Stöcken stand.

Wie ein Biberdamm hatten sich alle möglichen unausgesprochenen Dinge und beiseite gelegten, weggeworfenen, missachteten und bagatellisierten Sorgen, Ängste und Probleme ineinander verkeilt und bildeten so eine dichte Barriere. Das war also der Grund, warum der Fluss nicht fließen konnte. Ich versuchte, einzelne Stöcke aus dem Geflecht zu lösen. Doch sie waren eng verbunden mit all den anderen und hielten sich so sicher im Geflecht. Wo auch immer ich ansetzen wollte, es gab kein Durchkommen. Kein Durchbrechen.

Wie ein Biberdamm hatten sich unausgesprochene Dinge und beiseite gelegte, weggeworfene, missachtete und bagatellisierte Sorgen, Ängste und Probleme ineinander verkeilt.

So stand ich da, mit dem Kopf im Nacken, aussichtslos vor dem unüberwindbaren Hindernis und musterte es. Irgendwo musste es doch eine Schwachstelle geben. Aber lange Zeit fand ich keine. Ich musste mir erst die Zeit nehmen, jeden einzelnen Stock zu verstehen. Die Strukturen im Holz zu erkennen. Ich musste verstehen, die Muster zu lesen. Die Verflechtungen. Mir den Verhaltensweisen bewusstwerden. Ich musste erst lernen, die bekannten Wege zu verlassen und die gefährlichen Bastionen, vor denen es mich immer mit Ehrfurcht geschaudert hatte, neu zu betrachten.

Erst als ich alles verstanden hatte, den Bezug zueinander begriff, konnte ich den Biberdamm, der die Quelle blockiert hatte, zerstören. Und dafür musste ich noch nicht einmal mehr viel Energie aufwenden. Denn ich fand nicht, nein, ich wusste, wo der Strohhalm war, der das Gebilde zum Einsturz bringen konnte. Und so zog ich ihn.

Die alles mitreißende Springflut

Zuerst passierte gar nichts. Dann knackten ein paar Äste und noch bevor ich in Deckung hechten konnte, wurde das hölzerne Massiv, vor dem ich eben noch ratlos gestanden hatte, zu Treibholz in der Springflut, die urplötzlich aus der Quelle schoss.

Plötzlich war ich unter Wasser. Die Strömung riss mich mit sich, ohne mich wissen zu lassen, wo oben und unten war. Ich trieb zwischen Unrat und Algen und ruderte mit den Armen in die Richtung, die ich für oben hielt. Mit letzter Kraft durchstieß ich die Wasseroberfläche und riss die Luft in meine Lungen. Wie ich jetzt realisierte, war ich mitten im reißenden Fluss. Ich trieb umher, stieß gegen Steine und kraulte schließlich auf einen Stamm zu, an den ich mich klammern konnte. Rasant trieb ich so die peitschenden Stromschnellen hinab und wusste nicht, was ich nun tun sollte.

Plötzlich war ich unter Wasser. Die Strömung riss mich mit sich, ohne mich wissen zu lassen, wo oben und unten war.

Ich erinnerte mich wieder daran, was ich an der Quelle gelernt hatte und musterte das Treibholz. Ich fand Nischen und Eingriffe, um darauf klettern zu können und begann, erst wackelig und später mit mehr Finesse zu surfen. Schon bald war ich endlich im Fluss angekommen. Oder besser auf ihm. Und ich war nicht allein.

So viele ritten ebenfalls diese Wellen der Freiheit und meisterten die sie umspülenden Tunnel, die ihnen vorgegeben wurden. Sie hatten das Wasser verstanden. Sie kämpften nicht mehr dagegen an, sondern machten sich die ewige Mathematik der universellen Bewegung nutzbar. Mit diesem inneren Fokus macht es Spaß, den Wind im Haar zu spüren und auf den Wellen dahinzugleiten.

Zarte gelborangene Streifen ziehen über den Horizont der Abenddämmerung, als sich der Fluss verbreitert und schließlich mit mir zusammen ins weite, offene Meer der Ewigkeit mündet. Ich sitze auf meinem Board und schaue in die zahllosen Sterne, die in der Nacht über mir funkeln. Ich bin allein. Und doch mit allem verbunden. Bin frei. Ich atme tief die salzige Luft ein, stelle mich dann aufrecht hin und springe mit einem weiten Hechtsprung zurück in die Quelle.

Ich bin allein. Und doch mit allem verbunden. Bin frei.

Wir sind alle im Fluss. Oder zumindest am Fluss. Gemütlich. Die Wellen plätschern leise. Das Wasser rauscht beständig. Es kommt gerade von irgendwoher an uns vorbei, um danach seiner Bestimmung folgend seinen Weg zu gehen.

So wie wir.

Headerfoto: Noah Buscher via Unsplash. (Kategorie-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür!

ROB ist mittlerweile in der neuen alten Heimat eingekehrt und findet dort seinen Frieden im Wissen, dass es nicht so wichtig ist, wo man ist, sondern mit wem.

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