Weg von dir und zurück zu mir: Wie eine Reise ohne dich Klarheit zwischen uns schaffte

Ich sitze im Zug nach Hause und muss schmunzeln. Um mich herum haben sich Pfadfinder:innen auf den leeren Plätzen niedergelassen. Sie sinnieren über das gerade erst erlebte Wochenende, lachen, streiten, schmieden neue Pläne. Ihre Uniformen sitzen akkurat. Und auch ich lasse die einzelnen Szenen der letzten Tage wie einen Film im Kopf abspielen. Ein sehr schöner Film. Der Koffer schwer von Gepäck, der sonnengeküsste Kopf jedoch voller Leichtigkeit. Noch drei Tage zuvor saß ich am Flughafen und erhielt einen Anruf eines Herzmenschen. „Ich wollte dir nur viel Spaß auf deiner Reise wünschen!“ – „Meinst du, ich kann es schaffen?“ – „Du kannst alles schaffen.“

Ich musste raus. Raus aus dieser Stadt, raus aus dem Viertel.

Ich musste raus. Raus aus dieser Stadt, raus aus dem Viertel, in dem ich arbeite, raus aus dem Zuhause, das ich so sehr schätze und lieben gelernt habe. Und ich musste es alleine tun. Ich habe nicht nur eine gerunzelte Stirn gesehen, als ich erzählte, dass ich alleine wegfliegen werde. Kein lang geplanter Sommerurlaub, sondern lediglich ein Wochenende. Ein Wochenende, weg von dir, zurück zu mir.

Das Kapitel schließen

Ich erinnere mich, wie wir gemeinsam an der Theke der urigen Bar unweit der Reichenbachbrücke saßen. Ich erinnere mich, wie ich dir sagte, dass ich über dich niemals schreiben würde. Das kratzte an deinem Ego und ich weiß bis heute nicht, warum. Du weißt, ich liebe das Schreiben. Wir haben gerade erst bei einer Zigarette über Bukowski geredet und uns unsere Lieblingszitate mitgeteilt. Dass ich nicht von dir schreiben würde, war wohl geflunkert, denn heute, da kann ich nicht anders. Ich schreibe, um das Kapitel zu schließen. Ich hatte schon so ein Bauchgefühl, dass du dich genau an diesem Wochenende wieder melden würdest. Auf meiner Reise. Mein Bauchgefühl trügt mich glücklicherweise sehr selten. Und ich wusste auch, dass ich dieses Mal entschlossen sein würde. Etwas, was ich mit dem fehlenden Abstand zuvor nicht geschafft hatte. Und ich war mir stets dessen bewusst.

Manchmal sieht man die Dinge mit einem Abstand wesentlich klarer.

Diese Reise, sie war keine Flucht. Manchmal sieht man die Dinge mit einem solchen Abstand nur wesentlich klarer. Distanz schafft Sicherheit. Zumindest in meinem Fall. Und ist ein wenig Flucht ab und an nicht auch vollkommen okay? Muss man sich jeden Tag einem kleinen Kampf stellen? Das mit dir ist ein stets schöner Kampf, aber einer, den ich nicht mehr kämpfen möchte. Gesagt habe ich dir das nie. Es gab zwar viele Gelegenheiten, aber keinen Anlass dazu. Ich wusste, worauf ich mich einlasse. Ich wusste, was du in mir auslöst. Jedes Mal, wenn wir zwei miteinander waren. Ich wusste, dass diese Geschichte ein Ende finden wird, aber nur, wenn ich es selbst schreibe.

An diesem Samstag also, auf dieser wunderschönen Insel, da konnte ich dir dieses Mal antworten, dass es kein Treffen geben wird. Dass ich tausende Kilometer weit weg bin. Dass wir uns auch in Zukunft nicht mehr sehen werden. Ich habe bis heute keine Antwort von dir erhalten. Du wirst mir nie eine schuldig sein.

Neue Erinnerungen werden geschaffen 

Die vielen Gedanken an dich werden durch so viele schöne Erlebnisse weit weggeschoben: Die Reggae Cover-Versionen alter Klassiker im Café. Den spanischen Opa, der für mich einen alten Schlager auf Deutsch gesungen hat.

Er sagte mir, ich sei die Sonne. So etwas hast du mir nie gesagt.

Er sagte mir, ich sei die Sonne. So etwas hast du mir nie gesagt. Die Fische, die an meinen Füßen vorbei geschwommen sind. Das Salz auf meiner Haut. Das Salz auf meinen Lippen. Die Begegnungen. Sich mit Händen und Füßen der Rezeptionistin mitteilen. Das Meeresrauschen. Das Lauschen der Gespräche anderer Tourist:innen. Der köstliche Cappuccino und die Tapas-Platte. Dieser Ort, diese Reise. Ich denke an Mut, ich denke an Freisein, ich denke an Lieblingslieder, ich denke an mich.

Der erste Absatz unseres Endes

Als der Zug an den verschiedensten Feldern und Wiesen vorbei rast, wird mir bewusst, dass ich erst den ersten Absatz unseres Endes geschrieben habe. Es wird eine andere, eine längere, Reise werden. Auch das weiß ich insgeheim. Mir rattern die einzelnen Szenen unseres Films durch den Kopf. Nicht mehr der Urlaubsfilm. Unsere erste Begegnung. Die Schallplatten. Jedes Mal, wenn du mein Gesicht in beide Hände genommen hast, damit ein Kuss kein flüchtiger wird. Dein Geruch. All die tätowierten Bilder auf deinem Körper. Dein Schmunzeln, wenn ich wieder Quatsch gemacht habe. Deine Fragen über mich, auf die ich nicht immer eine Antwort wusste. Die Fotos. Der verrückte Kerl in den Mittvierzigern, der uns ans Herz legte, dass wir zwei wohl Seelenverwandte seien. Dein Akzent. Deine braunen Augen und der dunkelblonde Bart. Dein Gesichtsausdruck immer dann, wenn du versucht hast, mich zu lesen.

Ab heute entscheide ich mich für mich. Bon Voyage, Monsieur!

Sei dir gewiss, diese Szenen werde ich abspeichern, sie sind es bereits. Aber ab heute entscheide ich mich für mehr Salz auf den Lippen und weniger kämpfen. Ab heute entscheide ich mich für mich.

Wir verbringen jeden einzelnen Tag damit, Entscheidungen zu treffen. Diese Reise war eine besonders wundervolle. Ich wünsche mir mehr Seelen, die sich auch mal trauen zu flüchten. Die alleine hinaus ins Meer schwimmen wollen. Andere Orte sehen. Sich durch eine gerunzelte Stirn nicht verunsichern lassen. Ihre ganz eigene Geschichte schreiben. Entscheidungen müssen nicht immer richtig sein, aber fortan zähle ich nur noch die neuen Sommersprossen auf meiner Haut, nicht mehr die Tage, bis wir uns wiedersehen werden. Bon Voyage, Monsieur!

Headerfoto: Anastasiya Vragova (Kategorie-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

Valerie verliert zwischendurch mal die Orientierung, findet aber immer wieder auf die Spur zurück. Leere Worte gibt es für sie nicht. Ganz im Gegenteil. Valerie hofft, schreibt, lacht, flaniert. Mehr zu Valerie findet ihr auf Instagram.

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