Warum wir alle mutig sind – jeden Tag

Ich habe mich nie wirklich als mutigen Menschen gesehen. Vielleicht, weil ich Mut immer mit einer Extremsituation verbunden habe – wie Bungee-Jumping. Und weil ich nie Bungee-Jumping gemacht habe und demnach auch nie diesen großen Schiss vor dem Fall in der Hose hatte, hatte ich mir eben auch nie das kleine Abzeichen namens Mut verdient.

Was aber auch nicht weiter tragisch war, meinen Mut-Durst konnte ich noch immer durch Filme, Bücher und die Nachrichten stillen. Das ist auch jetzt manchmal noch so. Wenn ich sehe, wie fremde Menschen ohne zu zögern vier Stockwerke hochklettern, um ein am Balkon baumelndes Kleinkind zu retten, dann fühle ich mit und stille meinen Abenteuer-Durst durch die großen Heldentaten anderer.

Mut soll sich spektakulär anfühlen und darf nichts mit Angst zu tun haben

Mut war für mich also irgendwie immer spektakulär, außergewöhnlich, beispiellos. Es war das, was in der Öffentlichkeit landete oder zumindest im näheren Umfeld für Aufsehen sorgte. Es musste sich groß und wichtig anfühlen und durfte nichts mit Angst zu tun haben. In meinem eigenen Leben fand ich das mit so einer konkreten und eindeutigen Definition natürlich nicht.

Vielleicht ist das auch normal. Mit 14 hatte ich einfach noch nicht genug Leben gelebt und Perspektiven gesehen, um Mut in seiner banalsten Form zu erkennen. Und möglicherweise war mein Denken einfach zu stark von diesen Filmen, Büchern und Nachrichten, die oft extreme Umstände zeigen, geprägt. Da war das, was ich im Nachhinein als Mut bezeichne, einfach der ungemütliche Teil des Seins, der dazugehörte, Situationen, durch die man irgendwie durchmusste – gezwungenermaßen.

Mit 14 wusste ich eben noch nicht, dass Mut auch sprechen kann. Dass es das Grummeln in der Magengrube ist und das Herzrasen und die schwitzenden Hände. Ich wusste nicht, dass er die Atmung beschleunigt und für diese Flauheit im Körper sorgt. Dass er Adrenalin pumpt und meine Fantasie viel zu sehr beflügelt.

Und weil ich nicht wusste, dass Mut spricht, konnte ich auch nicht sehen, dass er nicht anstelle von Angst da ist, sondern dass die beiden Hand in Hand gehen und fest miteinander verbunden sind, wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Dass sie miteinander diskutieren und ringen und sich belächeln und gleichzeitig nicht ohne den anderen sein können, weil sie sich gegenseitig nähren.

Ich hätte gerne schon früher gewusst, dass Mut die Überwindung ist, es zu tun, obwohl man am liebsten absagen, umdrehen, aufgeben möchte.

Ich hätte gerne schon früher gewusst, dass Mut die Überwindung ist, es zu tun, obwohl man am liebsten absagen, umdrehen, aufgeben möchte. Das bedeutet, die Angst mitzunehmen und ihr auch noch die komplette Reise zu spendieren, all inclusive! Zwiespalte, Horrorszenarien, Unsicherheit. Sie ist dann eben live dabei, wenn man in den dunklen Keller tapst und in Lichtgeschwindigkeit wieder nach oben rennt.

Wenn man bei Gewitter irgendwann nicht mehr halb unter der Bettdecke ersticken will. Wenn man in die Schule geht, obwohl man verspottet wird. Wenn man sich die Haare abschneidet, alleine verreist, einen Schlussstrich zieht, einen Vortrag hält, gegen Diagnosen ankämpft, Therapien beginnt und abbricht und wiederbeginnt, seine Meinung sagt, sich verliebt, ein unangenehmes Gespräch führt, etwas Neues lernt, sich neu erfindet, aus der Not heraus alles zurücklässt oder für Arbeit oder Studium in eine fremde Stadt oder gleich auf einem fremden Kontinent zieht.

Wenn man trotz Scheitern und Ohnmachtsgefühl einen neuen Versuch wagt und sich immer und immer wieder Situationen stellt, die einem schon Wochen vorher Magenschmerzen bereiten. Wenn man sich morgens aus dem Bett kämpft und trotz einer langen Reihe von schlechten Tagen noch einmal von vorne beginnt.

Wenn man das macht, was einen herausfordert und manchmal auch an die Grenzen der eigenen Selbstzweifel bringt. Wenn man das macht, was wehtut, und auch das, was man sich eigentlich von Herzen wünscht, was aber so verdammt schwer ist. Oder wenn man „Nein“ sagt, ein einfaches, manchmal fast unmögliches Nein.

Wir können nicht alles können und müssen nicht alles müssen

Da ist die Angst und stellt uns vor die Wahl: Augen zu und durch oder verkriechen. Und da ist der Mut und sagt, dass Absagen, Umdrehen und Aufgeben auch okay ist; dass wir nicht immer alles können und nicht immer durch alles durchmüssen; dass wir ganz in Ruhe abwägen dürfen.

Er erinnert uns nur daran, dass es sich vielleicht lohnt, dass wir dieses eine Mal brauchen, um zu wachsen und uns mit neuen Fähigkeiten zu wappnen. Um zu sehen, dass die Realität hinter unserer Fantasie manchmal ganz anders aussieht und die Hürde – so hoch sie auch ist – am Ende ein Fortschritt, Heilung, Stärkung bedeutet.

Was nach der Überwindung für einen kurzen Moment bleibt, ist dieses wohlige und unvergleichliche Gefühl, das durch den Körper strömt und pulsiert, dieser wohlverdiente Triumph, dieses kleine, flüchtige und doch so wertvolle Bisschen ganz große Liebe für einen selbst.

Nach mehr Leben und mit Perspektive verstehe ich, dass Mut meistens relativ unspektakulär ist – oder man einfach schnell wieder vergisst, wie sich dieser kurzfristige Adrenalinstoß angefühlt hat und dass da tatsächlich mal ein Moment des Zögerns war. Hängen bleibt das Resultat, das Erfolgserlebnis. Und der Mut wird heruntergespielt und verliert an Bedeutung, obwohl der Augenblick für einen selbst vielleicht wirklich spektakulär und die Situation eine persönliche Heldentat war.

Ich wünschte, wir würden uns so wahrnehmen, wie es andere meistens tun, und sehen, wie mutig wir alle jeden Tag auf Neue sind.

Ich wünschte, wir würden uns so wahrnehmen, wie es andere meistens tun, und sehen, wie mutig wir alle jeden Tag auf Neue sind. In den kleinsten und scheinbar unbedeutendsten Dingen. Und dass wir uns dann selbst ein bisschen mehr lieben, nämlich dafür, trotz einer großen Portion Schiss in der Hose ins Leben gesprungen zu sein.

Headerfoto: Timothy Paul Smith via Unsplash.com. (Wahrheit oder Licht“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

 

CAROLIN(A) widmet sich nach einer Auszeit vom Müssen und Sollen endlich voll und ganz dem Schreiben. Und so nebenbei: Dingen, die glücklich machen. Das sind immer Bücher. Filme und Serien. Gedanken rund ums Leben. Weißwein, halbtrocken. Wasabi-Erdnüsse. Blubberndes Apfelmus. Mehr von ihr gibt es bei Instagram.

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