Warum der Mensch mit seinen Sehnsüchten wächst – oder die Sehnsüchte mit ihm

Irgendwie scheint es immer das zu sein, was wir gerade nicht haben, das die größten Sehnsüchte in uns hervorruft, das uns schwanken lässt zwischen dem ewigen Was-jetzt-ist und Was-sein-könnte.

In den zusammenhanglosesten Momenten kriecht eine Erinnerung oder ein Gedanke aus den Katakomben unseres Gedächtnisses hervor und macht ganz laut plopp! Und wir sind uns plötzlich so sicher, dass dieses ganz bestimmte oder doch diffuse Etwas fehlt und dass das vielleicht genau der Grund ist, warum sich einfach nichts ändert und wir auf der Stelle treten, in einer Sackgasse stecken, in der es anscheinend keinen Weg zurück gibt.

Selbst wenn die Sehnsucht mit mehr oder weniger schwerwiegenden Konsequenzen verbunden wäre, würden wir das in Kauf nehmen, im Hier und Jetzt, in dem die Vorstellung allein wie Akupunktur auf unseren Körper wirkt und das zerbrochene Yin und Yang wieder zusammensetzt.

Erase and rewind. Dann ist sie dieser Wunsch nach etwas Neuem, wenn auch nur für den Moment.

Aber vielleicht macht ja gerade das die große Sehnsucht aus: eine radikale Veränderung des Äußeren, des Inneren, der Lebensumstände, der Zukunftsperspektive. Erase and rewind. Dann ist sie dieser Wunsch nach etwas Neuem, wenn auch nur für den Moment. Dann ist sie die Suche nach Zufriedenheit und Glück, nach relativen und subjektiven Verbesserungen und schönen Luftschlössern, welche unsere Erwartungen nähren.

Sehnsucht hat für mich aber auch immer etwas Melancholisches. Und Melancholie kann uns von einer Sekunde auf die andere um 40 Jahre altern und der Vergangenheit hinterhertrauern lassen. Dem, was einmal war. Einem ganz bestimmten Ort oder Menschen. Einem Tag, der sich fest in die Erinnerung gebrannt hat. Einer glückliche Situation oder einem Ich, das mal diese andere Seite hatte. Eine bessere?

Was würden wir darum geben, wieder zu diesem Damals zurückzukehren, auch wenn es mittlerweile vollkommen inkompatibel wäre mit dem Istzustand – oder vielleicht auch gar nicht mehr so schön. Wer weiß das schon? Sehnsüchte können manchmal so wahnsinnig verzerrt und realitätsfremd sein.

Manchmal ist die Sehnsucht gleichzeitig gestern und morgen. Manchmal ist sie vollkommen utopisch und dann auch wieder möglich, vielleicht braucht sie nur ein wenig Geduld.

Manchmal ist die Sehnsucht gleichzeitig gestern und morgen. Manchmal ist sie vollkommen utopisch und dann auch wieder möglich, vielleicht braucht sie nur ein wenig Geduld. Wenn ich mir im Winter oder in Dauerregen-Phasen den Sommer wünsche, dann trauere ich den warmen Tagen hinterher und gleichzeitig weiß ich, dass er ja kommt, der Sommer, dass dieses Bild in meinem Kopf tatsächlich sein kann, dass es nicht nur ein Hirngespinst oder bloßes Wunschdenken ist:

Die Erfüllung gibt es für mich – irgendwie, irgendwo, irgendwann.

Vielleicht sind solche Sehnsüchte, also die, die im Endeffekt und bis zu einem gewissen Grad unumgänglich und Teil externer Zyklen sind, einfacher. Sie treten nicht unbedingt in dem Moment ein, in dem wir sie uns wünschen, aber sie liegen definitiv im Bereich des potenziell Möglichen.

Wenn ich mal wieder mein ganzes Sein infrage stelle, dann schaffen sie es, mich hochzuziehen und daran zu erinnern, dass es sich für so vieles zu kämpfen lohnt.

Was ich an ihnen besonders mag, ist, dass sie beruhigend auf mich wirken, mich kleine Alltagskrisen überstehen lassen, mir immer wieder gut zureden, dass der Kopf eben irgendwann keine Fantasiebilder mehr heraufbeschwören braucht, weil ich eben irgendwann tatsächlich mittendrin sein werde. Wenn ich mal wieder mein ganzes Sein infrage stelle, dann schaffen sie es, mich hochzuziehen und daran zu erinnern, dass es sich für so vieles zu kämpfen lohnt.

Und vielleicht sind sie deswegen die besseren, die liebenswürdigeren Sehnsüchte, weil sie es ja irgendwie auch gut mit uns meinen. Zumindest sind sie doch darum bemüht, die Unwirklichkeit ins Gegenteil zu kehren. Oder? Vielleicht sind sie aber auch nur vergleichsweise besser.

Nämlich dann, wenn wir sie den anderen gegenüberstellen, denen, die nicht nur an uns zehren, sondern regelrecht zerren, gnadenlos, zu jeder Tages- und Jahreszeit, über die Grenzen hinaus, wenn wir doch eigentlich schon längst mit ihnen abgeschlossen hatten oder abschließen mussten, und ein Zurück überhaupt nicht mehr möglich ist.

Diese stoßen uns mit voller Wucht in diese dunklen Katakomben, in denen ja unsere Erinnerungen und heimlichen Gedanken hausen, oder katapultieren uns in ein Morgen, das noch Lichtjahre entfernt ist.

Ich frage mich, ob manche von ihnen so nagend und stechend sind, weil sie selbst nicht genau wissen, ob sie in Erfüllung gehen wollen.

Ich frage mich, ob manche von ihnen so nagend und stechend sind, weil sie selbst nicht genau wissen, ob sie in Erfüllung gehen wollen, weil sie selbst hin- und hergerissen sind zwischen Möglichkeiten, Vorstellungen und Konsequenzen. Manchmal, meistens später als früher, sind nämlich auch sie realistisch.

Dann wird ihnen bewusst, dass man A und B nicht auf die lockere Schulter nehmen kann, dass sich manche Dinge nicht wieder ankleben, zusammensetzen oder flicken lassen, dass rückgängig machen ausgeschlossen ist. Irreversibel nennt man das, definitiv, für immer.

Vielleicht wissen sie insgeheim aber auch, dass, egal wonach wir uns so sehr sehnen und als so erstrebenswert betrachten, das Gefühl der Erfüllung möglicherweise nur kurzlebig ist. Dass die Sehnsucht ja immer in dem besteht, was wir nicht haben, in Gegenteilen, Rückwärtsgängen, in umgekehrten Wunschbildern, in Vermissungen und neuen Sehnsüchten, die nicht nur einen alten, sondern meistens auch einen bitteren Beigeschmack haben.

Dass sie möglicherweise diese ganze Zeit über nur ihre Daseinsberechtigung hatte, um die Herzhülle mit Leben auszufüllen und den vielen aneinandergereihten Tagen ihren Sinn zu geben. Nur um dann, wenn der Tag X gekommen ist, wie ein langweiliges Spielzeug ausgedient in der Ecke zu landen.

Vielleicht.

Ich glaube allerdings immer öfter, dass meine Sehnsüchte mit mir wachsen und sich so langsam von zu viel Romantik und Utopie verabschieden.

Ich glaube allerdings immer öfter, dass meine Sehnsüchte mit mir wachsen und sich so langsam von zu viel Romantik und Utopie verabschieden. Da ist zum Beispiel diese eine große Sehnsucht, die schon seit Ewigkeiten in mir haust und die mich am liebsten morgen wieder meine Siebensachen packen und in ein neues Land ziehen lassen würde (selbst in eins mit Dauerregen-Phasen und nicht enden wollenden Wintern).

Manchmal wütet sie so heftig in mir, dass ich, wenn ich mich nicht sofort in ein neues Abenteuer stürze, womöglich platze.

Aber kurz vor der Explosion, in diesem einen so bedeutungsschweren Moment, in dem die zwei Herzen in der Brust schon Anlauf nehmen und sich aufs Schlimmste gefasst machen, werden die Sehnsucht und ich plötzlich ganz still und denken nach.

Über dieses Hin- und Hergerissensein, über Stillstand und Abenteuerlust, Reisen und Ankommen, über ein ganz neues Leben irgendwo anders und das gute Gefühl, das mit der Erfüllung durch den Körper strömt und wirkt wie der erste Schluck Wein nach langer Zeit.

Aber auch über Kompromisse, die wir damit schließen müssten und vielleicht nicht wollen, über Vorstellungen, die möglicherweise nicht eintreffen, Erwartungen, die nicht erfüllt werden können, und Gedanken, die am Ende wie eine Luftmatratze ins offene Meer abtreiben.

Vielleicht sind Sehnsüchte auch manchmal unstillbar. Und vielleicht kann und muss da ja auch gar nicht anders sein, weil Sehnsüchte, wenn wir sie einmal ganz nüchtern betrachten, ja simpel sind. 

Vor allem aber denken wir an die Möglichkeit, dass meine Sehnsucht vielleicht unstillbar ist. Und dass das vielleicht gar nicht anders sein kann und muss, weil Sehnsüchte, wenn wir sie einmal ganz nüchtern betrachten, ja simpel sind. Manchmal erfüllen sie nämlich nur eine einzige, fast unsichtbare, aber trotzdem so vitale Funktion: uns spüren zu lassen, dass wir am Leben sind.

Dass sich etwas in uns bewegt, dass wir dursten und hungern. Und dann erkennen wir vielleicht, dass wir es leid sind, in der immer gleichen Sackgasse zu stecken, oder dass die Sackgasse im Endeffekt gar keine Sackgasse ist. 

Headerfoto: Joshua Rawson-Harris via Unsplash.com. („Wahrheit oder Licht“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

CAROLIN(A) widmet sich nach einer Auszeit vom Müssen und Sollen endlich voll und ganz dem Schreiben. Und so nebenbei: Dingen, die glücklich machen. Das sind immer Bücher. Filme und Serien. Gedanken rund ums Leben. Weißwein, halbtrocken. Wasabi-Erdnüsse. Blubberndes Apfelmus. Mehr von ihr gibt es bei Instagram.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.