„Naiv“, „idealistisch“, „verträumt“ – das sind Adjektive, mit denen ich manchmal beschrieben werde. Ich mag sie nicht. Warum? Weil diese Adjektive in der Gesellschaft, in der ich aufgewachsen bin, negativ konnotiert sind.
Wieso? Weil Naivität, Träumereien und auch Idealismus nur bedingt zu unserem kapitalistischen System beitragen. In der Annahme vieler zumindest und häufig auch derer, die mich so beschreiben. Höher, schneller, weiter komme man schließlich nur mit Produktivität, Rationalität und Realismus.
Nachdem ich mich Jahre meines Lebens aufgrund dieser Beschreibung schlecht, ja teilweise sogar verletzt gefühlt habe, stelle ich mir inzwischen zwei Fragen. Erstens: Warum haben wir Menschen überhaupt das Bedürfnis, andere zu beschreiben und in Schubladen zu verfrachten? Und zweitens: Sind diese Eigenschaften tatsächlich „negativ“, gehören sie wirklich zu meinen „Schwächen“ und kann ich nicht sogar auch mit ihnen etwas beitragen?
Warum beschreiben wir überhaupt?
In meiner Recherche dazu erfahre ich, dass der Grund schlichtweg ist, dass wir uns so leichter tun. Unser Gehirn sehnt sich nach Ordnung und definierten Strukturen. Es ist permanent damit beschäftigt, zu kategorisieren, indem es Personen und Situationen mit ähnlichen abgleicht. Das spart Energie, denn sonst müssten wir uns ständig neu orientieren.
Aber nicht nur das. Professor Boris Suchan, Neurowissenschaftler an der Ruhr-Universität Bochum, erzählt in einem Artikel von Deutschlandfunk: „Das ist für uns überlebenswichtig, zu wissen, das ist der Hund und das ist der Wolf, das macht unser Leben ja auch einfacher.“
Und grundsätzlich ließen sich dank definierter Kategorien auch Entscheidungen schneller treffen. Gefährliche Situationen einschätzen und dann schnell entscheiden zu können, ist natürlich von Vorteil. Das leuchtet ein.
Dann gibt es Menschen wie mich, die sich hin und wieder in dieser Schublade wiederfinden und sich dort eingesperrt und nicht fair behandelt fühlen.
Der Nachteil: Schubladen können nicht nur aus nützlichen Kategorien bestehen, die uns beschützen, sondern auch unreflektierten Vorurteilen, die nicht mehr hinterfragt werden. Denn die Kategorien in unserem Kopf werden natürlich auch von der Gesellschaft und unserer Sozialisation in ihr geprägt.
So entstehen Schubladen wie die, in die wir all diejenigen stecken möchten, die ihren Tag damit verbringen, idealistische Pläne zu schmieden und von einer besseren Welt zu träumen. Die keinem üblichen 9-to-5-Job nachgehen, sondern sich einen individuellen Alltag gestalten.
Und dann gibt es Menschen wie mich, die sich hin und wieder in dieser Schublade wiederfinden und sich dort eingesperrt und nicht fair behandelt fühlen. Da unser aller Gehirn jedoch automatisch versucht, zu erfassen, zu beschreiben und einzuordnen – auch so hochindividuelle und komplexe Wesen wie Menschen –, liegt es an uns, dem aktiv entgegenzusteuern.
Wie kann ich entgegensteuern?
Persönlichen Kontakt aufzunehmen hilft häufig schon dabei, einen Menschen wieder aus einer Kategorie herauszuholen. Gespräche, die aus wirklichem Interesse und mit Aufmerksamkeit geführt werden, können erste Eindrücke bereits revidieren. Das funktioniert im Vorstellungsgespräch, aber auch auf einer privaten Feier.
Dann wird vielleicht festgestellt, dass ich zwar vielleicht gerne träume, aber durchaus auch etwas mit meinen Texten beizutragen habe. Dass mir meine Träume dabei helfen, Bilder und Metaphern zu finden, um wichtige Sachverhalte noch anschaulicher näherbringen zu können.
Persönlichen Kontakt aufzunehmen hilft häufig schon dabei, einen Menschen wieder aus einer Kategorie herauszuholen.
Und dass mich mein Idealismus überhaupt erst Zeit in Texte investieren lässt, die tatsächlich etwas bewirken können – und wenn es bloß ist, einen einzigen Menschen zu Tränen zu rühren (im besten Fall, weil sie etwas in ihm berühren, und nicht, weil sie so schlecht geschrieben sind).
Doch all diese neuen Gedankengänge setzen natürlich die grundsätzliche Offenheit und Bereitschaft voraus, das Gegenüber kennenzulernen und Schubladen gegebenenfalls wieder aus- oder umzuräumen. Diese Offenheit und Bereitschaft wünsche ich mir. Oder ist etwa auch das zu idealistisch und groß geträumt?
Rechtfertige ich mich bloß?
Damit habe ich mir auch meine zweite Frage ein Stück weit selbst beantwortet. Ich trage etwas bei. Auch wenn nicht mit einem monetären Gewinn für die Gesellschaft, sondern viel eher mit einem Gewinn an Information, neuen Gedanken, Emotion und Empathie für Mitmenschen.
Ich träume, fantasiere, denke, idealisiere vor mich hin und schreibe es dann auf, um den ein oder die andere mit meinen Zeilen zu erfreuen, zu bewegen, zum Nachdenken anzuregen, zu bestärken. Mein Idealismus trägt dazu bei, dass ich Texte wie diese schreibe und nicht vor lauter Angst davor, meine Miete nicht mehr bezahlen zu können, irgendeinen Job mache, der mir zwar Geld bringt, aber sonst nichts. Mit sonst nichts meine ich keine Freude, keine Verwirklichung und auch keinen Sinn.
Wir haben immer noch selbst in der Hand, ob wir jemanden in dieser Schublade lassen wollen oder uns durch offene Gespräche gerne auch von etwas anderem überzeugen.
Vielleicht scheinen meine Fragen und meine Antwortsuche ein bisschen so, als würde ich mich für meine kritisierten Eigenschaften rechtfertigen wollen, was wiederum bedeuten würde, dass mir die Meinung anderer (zu) wichtig ist. Vielleicht ist es so.
Aber noch viel wichtiger ist mir das Prinzip. Das Prinzip, dass unser Gehirn wohl so programmiert ist, in Kategorien und Schubladen zu denken, wir aber immer noch selbst in der Hand haben, ob wir jemanden in dieser Schublade lassen wollen oder uns durch offene Gespräche gerne auch von etwas anderem überzeugen.
Denn es ist ja so: Wir verfrachten Menschen gerne in Schubladen, fühlen uns darin selbst aber nicht immer wohl. Wie wäre es also, das nächste Mal, wenn wir unsere eigene Kategorisierung wahrnehmen, im offenen Gespräch nachzufragen, wieso unser Gegenüber so denkt oder handelt, anstatt ihm:ihr unser Urteil direkt aufzudrücken? Wo wir doch alle aus Erfahrung wissen, dass es so viel einfacher ist, jemanden aus einer Schublade wieder herauszuholen als selbst aus einer hinausklettern zu wollen.
Headerfoto: Kenzie Kraft via Unsplash. („Gesellschaftsspiel“-Button hinzugefügt, Bild gecroppt.) Danke dafür!