Von Liebe, Herzschmerz und Muskelkater

Wenn man regelmäßig Sport macht, und Kraftsport noch dazu, dann weiß man, dass Muskeln erst am zweiten und dritten Tag nach der ausgeübten Anstrengung mit dem Wachstum beginnen. Auf dem Plakat im Waschraum meines Fitness-Studios wird für den Verzehr von Nahrungsergänzungsmitteln geworben, die den Muskel bei eben diesem Wachstum unterstützen sollen: „An Tag eins setzt Du den Impuls, an Tag zwei und drei wächst der Muskel.“

An Tag eins setzt Du den Impuls, an Tag zwei und drei wächst der Muskel.

Seit einiger Zeit denke ich darüber nach, ob diese Regel auch auf den wichtigsten aller Muskeln in unserem Körper zutrifft: das Herz. Aus sportlich-kardiologischer Sicht mit Sicherheit, immerhin sorgen Intervall-Trainings-Einheiten dafür, dass neben der Lunge auch das Herz innerhalb relativ kurzer Zeit belastbarer und leistungsfähiger wird. Worauf ich allerdings hinausmöchte, ist die emotionale Leistung, welche unsere Herzen mitunter bewältigen müssen.

Wenn man sich heutzutage auf eine andere Person einlässt – auf eine Affäre, eine Freundschaft Plus oder auch eine feste Beziehung – dann bedeutet das nicht zwangsläufig immer, dass man auch von Anfang an große Gefühle mit in diese Verbindungen hineinbringt. „Lass uns mal sehen, wo das hinführt“, ist einer der wohl am häufigsten ausgesprochenen Sätze, wenn es darum geht, jemanden näher kennenzulernen.

Leute schlafen mit mehr oder weniger gut bekannten Menschen – ohne dabei irgendwelche besonderen Gefühle zu haben, die man als „Liebe“ oder auch nur „Verliebtheit“ bezeichnen würde. Unverbindlichkeit, oftmals auch betitelt mit „Lockerheit“, ist heute paradoxerweise fast Voraussetzung dafür, überhaupt jemanden ins Bett zu bekommen.

Unverbindlichkeit, oftmals auch betitelt mit ‚Lockerheit‘, ist heute paradoxerweise fast Voraussetzung dafür, überhaupt jemanden ins Bett zu bekommen.

Aber wenn zu Beginn welcher Art von Beziehung auch immer keine großen Gefühle da sind und wenn die Anwesenheit des anderen in der akuten Situation auch keine Verliebtheits-Gefühle auslöst, kann man dann erwarten, dass sich Gefühle in der Zeit der Abwesenheit bilden und/oder verstärken?

Wachsen meine Gefühle für den anderen gerade dann, wenn er nicht da ist – analog zum Muskelwachstum nach dem Workout? Benötigen Gefühle für ihr Wachstum auch Ruhephasen?

Sicherlich, nicht selten bleiben die Gefühle wirklich einfach aus. Es gibt hier nicht – wie beim Sport – eine zeitlich festgelegte Ursache-Wirkungs-Folge. Aber wenn es womöglich eine emotionale Wachstumsphase nach dem Prinzip des Muskelwachstums gibt, kommt es vielleicht nicht so sehr darauf an, was wir für den anderen empfinden, wenn er präsent ist. Möglicherweise geht es vielmehr um unsere Gefühle während seiner Abwesenheit.

Schon seit der Antike definiert sich der Anspruch der meisten Menschen an die Liebe über das Finden der einen anderen Hälfte, die sie komplettiert.

Schon seit der Antike definiert sich der Anspruch der meisten Menschen an die Liebe über das Finden der einen anderen Hälfte, die sie komplettiert; das perfekte Gegenstück, das in jedem Punkt die Ergänzung zum eigenen Selbst ist. Nur Narziss brauchte lediglich sein eigenes Spiegelbild. Der Glückliche.

Das bedeutet doch aber im Umkehrschluss auch, dass wir erst während der Abwesenheit des anderen erkennen können, ob es sich bei ihm – oder ihr – um unsere perfekte andere Hälfte handelt, oder nicht? Wenn ich mich nur in Anwesenheit des anderen vollständig fühle, wächst dann in der Zeit ohne ihn – also der Zeit des metaphorischen zweiten und dritten Tags nach dem Beziehungs-Workout – die emotionale Leistungsfähigkeit meines Herzens?

Sind Leidenschaft und echte Liebes-Gefühle wirklich genuin an die Abwesenheit des anderen gebunden? In der Soziologie wird diese These hartnäckig propagiert. Und wie oft da wirklich etwas dran ist, das sehen wir eben erst in den Momenten, in denen wir nicht oder nicht mehr von unserem Beziehungspartner ergänzt werden.

Erst im Mangel, mag er nun temporär oder dauerhaft sein, erkennen wir, dass etwas oder jemand vorher anwesend war.

Erst im Mangel, mag er nun temporär oder dauerhaft sein, erkennen wir, dass etwas oder jemand vorher anwesend war. Das mag natürlich nicht immer der Fall sein – aber was wäre die Regel ohne die so berühmte Ausnahme?

Immerhin bleibt als Trost für diejenigen, die vermissen und den Mangel verspüren, noch zu sagen, dass das Herz nicht nur in seiner Liebes-Leistungsfähigkeit ein Wachstum erfahren, sondern es auch in seiner Strapazierfähigkeit durch Liebeskummer gestärkt werden kann.

Mit jeder Verletzung – jedem überstandenen Herzschmerz-Muskelkater – wird das Herz in seiner Schmerztoleranz stärker und belastbarer. Denn das Herz ist ein Muskel, der trainiert werden kann – auch in emotionaler Hinsicht. Zumindest glaube ich das ganz fest.

Headerfoto: mari lezhava via Unsplash.com.  („Gedankenspiel“-Button hinzugefügt.) Danke dafür! 

LINDA hat an Heiligabend Geburtstag, kommt aus dem Rheinland, ist aber im Herzen Hamburgerin. Sie hat Literatur in Bonn und Hamburg studiert und mit einer Arbeit über die Liebe abgeschlossen. Für die Liebe ist sie auch nach Berlin gezogen. Bei im gegenteil liest sie deswegen auch Liebesbriefe und sorgt dafür, dass diese hübsch gemacht sind für dieses Internetz.

2 Comments

  • Glaubst du wirklich daran, dass das Herz durch mehr Verletzungen nur stärker wird? Mein Herz fühlt sich eher an wie eine konditionierte Schnecke – je öfter es verletzt wird, desto schneller zieht es sich ängstlich und übervorsichtig in sein Schneckenhaus zurück und wartet (allerdings traurig), bis die „Gefahr“ vorbei ist. Eigentlich würde es ja auch ganz gern mal draußen bleiben, aber es ist eben wie bei Pawlow: Glocke aka Schmetterlinge im Bauch = Essen aka Schmerz, weil zu hart auf die Fresse fallen.

    • Hey Du!
      naja, ich schreibe hier nur über meine Erfahrungen. Und obwohl es die Liebe bisher recht gut mit mir gemeint hat, wurde ich auch von der einen oder anderen Verletzung nicht verschont. Verletzungen machen Dich natürlich nicht grundsätzlich immun gegen Liebeskummer, das wäre auch zu schade, so abzustumpfen, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass es mit jedem Mal – zumindest mir – ein klein wenig leichter gefallen ist, mich wieder aufzurappeln und weiterzumachen.

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