Nachdem ich die Metalldetektoren passiert hatte, saß ich beim Familiengericht Kreuzberg im Wartezimmer und guckte auf einen blumigen Kunstdruck von Monet. In meinen Händen – die Nägel hatte ich unschön abgeknabbert – hielt ich den Ordner mit den ausgedruckten E-Mails. Genau 100 Seiten waren es, die schlimmsten Stellen waren markiert. Auf dem Weg zum Gericht waren schon wieder neue Nachrichten in meinen Posteingang geflattert. Nachrichten von meinem Stalker.
Eines Tages war er einfach da, in Form einer etwas wirren, aber freundlich erscheinenden E-Mail, die er an meine Fotowebseite geschickt hatte. Ich bedankte mich für die Komplimente, die er mir zu meiner Arbeit gemacht hatte. Er schrieb zurück, ich blieb stumm. Er schrieb wieder. Ich blieb stumm. Er schrieb wieder.
Und schrieb wieder. Und schrieb wieder. Und schrieb wieder. Und schrieb wieder. Und schrieb wieder. Und schrieb wieder. Und schrieb wieder.
Und schrieb wieder. Und schrieb wieder. Und schrieb wieder. Und schrieb wieder. Und schrieb wieder. Und schrieb wieder. Und schrieb wieder.
Allmählich zog er in mein Leben ein. Jede Nacht las ich von ihm – zumindest die Betreffzeilen. Den Inhalt guckte ich mir selten an. Ich hatte mich bereits zu gruseln begonnen und hoffte, er würde mich in Ruhe lassen, wenn ich ihn nur lang genug ignorierte. Aber er schrieb wieder und wieder und wieder – es hörte nicht auf.
Bis ich genau drei Wochen und etliche Mails später ziemlich viel Schiss hatte. Ich hatte Angst, dass ihn eine offizielle Ansage à la „Lass mich in Ruhe“ verärgern könnte, also googelte ich: „Wie reagiere ich auf einen Stalker?“ An dem Punkt war mir bereits klar, dass ich es mit einem Verrückten zu tun hatte, denn er hatte mir eine romantische Beziehung aufgezwungen, ohne dass ich zugestimmt oder in irgendeiner Art und Weise daran teilgenommen hätte.
Ich schrieb ihm einen knappen, sehr klaren Dreizeiler, in dem ich ihm erklärte, dass ich kein Interesse an ihm hatte und er mich in Ruhe lassen solle. Danach schrieb er noch öfter, bis zu zehn Mails am Tag. Zum ersten Mal in meinem Leben war ein hartes „Nein“ für einen Mann kein Grund, mich in Ruhe zu lassen. Zum ersten Mal fürchtete ich mich vor jemandem, den ich noch nie getroffen hatte.
Zum ersten Mal in meinem Leben war ein hartes „Nein“ für einen Mann kein Grund, mich in Ruhe zu lassen. Zum ersten Mal fürchtete ich mich vor jemandem, den ich noch nie getroffen hatte.
Ich lag nachts wach und dachte an die Zeilen, die er mir geschrieben hatte, fragte mich, wann die nächste Nachricht kommen würde, wie ernst er es meinte, wenn er schrieb, er käme mich bald in Berlin besuchen. Und zum ersten Mal war mir mulmig in meiner eigenen Wohnung. Ich ging mitten in der Nacht zur Tür und schloss zweimal ab und ärgerte mich dabei, weil ich mich von einem Fremden einschüchtern ließ. Ich klammerte mich an den Gedanken, dass er das Interesse verlieren würde. Er musste das Interesse verlieren.
Währenddessen fantasierte er weiter über unsere Zukunft, über ein gemeinsames Kind, darüber, wie ich ihm Essen kochen und die Zigarette danach mit ihm teilen würde, sendete mir 34 Fotos von sich und seiner Tochter und seiner Nacktheit, schickte mir seine Adresse, drohte mir, mich und meine Liebsten zu bestrafen, wenn ich mich nicht melden würde, benutzte allein in einer einzigen Betreffzeile dreimal das Wort „Angst“.
Die Angst und Hilflosigkeit waren bei mir inzwischen schon in Wut umgeschlagen, die wiederum zur größten Quelle meiner Motivation wurde. Ich wollte mir das nicht antun lassen. Ich wollte nicht das Opfer sein, mich nicht so fühlen, mich nicht mit der Rolle identifizieren. Das größere Opfer von uns beiden war schließlich der Fremde, der mich belästigte. Damit würde er nicht durchkommen. Ich würde mich auf allen Ebenen, die mir einfielen, wehren.
Damit würde er nicht durchkommen. Ich würde mich auf allen Ebenen, die mir einfielen, wehren.
Ich telefonierte mit Mary Scherpe (die aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen eine große Hilfe war), ich ließ mich bei Frieda beraten (einem wirklich absolut empfehlenswerten Frauenzentrum in Berlin), ich ließ eine Auskunftssperre über meine Adresse verhängen (indem ich lediglich beweisen musste, dass mein Leben in Gefahr war), ich nahm psychologische Hilfe in Anspruch und redete mit jedem darüber, der sich auch nur ansatzweise für meine Geschichte interessierte (ein ganz großes Danke an alle, die für mich da waren).
Ich ließ die Mails automatisch an einen Freund weiterleiten, damit ich mich nicht mehr selbst damit belasten musste. Ich fertigte ein Stalking-Tagebuch an und beschäftigte mich mit der rechtlichen Seite. Ich hatte sechs Wochen am Stück schlimmen Husten. Ich versteckte mein Handy, um das Gefühl loszuwerden, dass dieser Mann mir ganz nah ist, ich trug einen Taschenalarm bei mir und hatte natürlich längst meine Profile in den sozialen Medien auf privat gestellt, ich war ungern alleine und konnte mich bei der Arbeit schlecht konzentrieren. Dabei wollte ich einfach nur in Ruhe mein Leben leben.
Wann war ein Stalker ein Stalker und Stalking ein Verbrechen? Wie sehr musste ich einen Fremden in mein Leben lassen, bevor ich ihn offiziell daraus verbannen durfte?
Wann war ein Stalker ein Stalker und Stalking ein Verbrechen? Wie viel Angst musste ich haben, damit ich sie zur Polizei tragen konnte? Wie viele Din-A-4-Seiten des Wahnsinns musste ich als Beweismittel vorlegen? Wie sehr musste ich einen Fremden in mein Leben lassen, bevor ich ihn offiziell daraus verbannen durfte?
Überraschenderweise (ich hatte viele Horrorgeschichten gehört) wurde ich beim Familiengericht, das für Stalkingangelegenheiten zuständig ist, sehr ernst genommen mit meinem Ordner. Sogar so ernst, dass ich vor Erleichterung weinen musste. Ich sprach mit zwei Personen, brachte meine Aussage zu Protokoll und beantragte eine Einstweilige Anordnung. Ein*e Richter*in entschied im Eilverfahren, dass besagter Mensch mich nicht mehr kontaktieren oder sich mir nähern dürfe. Der Bescheid wurde am Tag der Deutschen Einheit zugestellt.
Mit den Mails, die danach bei mir eintrafen, ging ich wiederum zum Gericht und beantrage jeweils Bußgelder, die unerwartet saftig ausfielen. Der Fall wurde außerdem an die Polizei weitergeleitet. Ich weiß nicht, ob ich das letzte Wort von meinem Stalker schon gelesen habe, habe aber keine Angst mehr. Nicht mit mir, Pisser!
Seine Daten darf ich nicht preisgeben, damit ich seine Persönlichkeitsrechte nicht verletze. Sehe ich total ein, er hat meine Grenzen ja schließlich auch ganz super akzeptiert.
Der Gedanke an diesen Menschen bringt mich trotzdem nach wie vor auf 180. Weil ich mir vorstelle, dass er bei mir zwar aufgegeben, sich aber schon die nächste Frau aus dem Netz gefischt hat, um sie nun zu belästigen. Seine Daten darf ich nicht preisgeben, damit ich seine Persönlichkeitsrechte nicht verletze. Sehe ich total ein, er hat meine Grenzen ja schließlich auch ganz super akzeptiert.
Auch die Zahl der (hauptsächlich) Frauen, die sich bei mir mit einer ähnlichen Geschichte gemeldet haben, haben mich verwundert. Das waren nämlich sehr viele. Und die meisten fühlten sich von den Behörden nicht so gehört und ernst genommen wie ich.
Studien zufolge sind mehr als 80% der Stalkingopfer Frauen, ein durchschnittlicher Stalkingangriff dauert zwischen 21 und 28 Monaten.
Stalking bleibt eine Tat, über die zu wenig gesprochen wird. Studien zufolge sind mehr als 80% der Stalkingopfer Frauen, ein durchschnittlicher Stalkingangriff dauert zwischen 21 und 28 Monaten. Die Geschädigten haben es mit einem enormen psychischen Druck zu tun, der nicht selten in psychischen Krankheiten und dem Zusammenbruch des Alltags endet.
Das Gefühl, das dieser Mensch in mir ausgelöst hat, wünsche ich niemandem auf der Welt. Außer natürlich allen Stalkern. Ich hoffe, der Gerichtsvollzieher steht auch bald vor eurer Tür.
Habt ihr Erfahrungen mit dem Thema gemacht? Wie seid ihr mit der Bedrohung umgegangen? Findet ihr, dass die Opfer ausreichend geschützt werden? Und: Möchtet ihr mehr darüber wissen, wie man sich konkret gegen Stalker wehren kann?
Für alle, die Beratung und Hilfe brauchen, empfehle ich das Frauenzentrum Frieda, die Informationsseite der Polizei und den Weißen Ring. Bleibt stark und traut euch, euch Hilfe zu suchen. Ihr seid nicht allein!
Hallo Jule,
ich kann das sehr gut nachvollziehen. Leider wird es komplizierter, wenn die Person nebenan wohnt, es ein Dorf ist, in der jeder Angst hat und daher lieber wegschaut und es „nur Psychoterrror“ täglich ist. Dann hilft auch kein weisser Ring etc. Ich suche seit 1 Jahr Hilfe und finde sie wenigstens in Freunden.
Danke Jule!
Fremder, der in die Privatsphäre eindringt (Persönlichkeitsstörung, Psychopath).
Es kann JEDEN treffen.
Danke Jule für diesen Text aber auch Danke für deinen Mut dem Typen an die Eier zu packen! Ich wünsche dir, dass du dich davon gut „erholst“. Du hast alles richtig gemacht und machst ganz vielen anderen damit Mut und Hoffnung!
Danke!