Liebes Corona-Tagebuch! Eine Frage, die ich mir immer häufiger stelle: Bin ich noch im Moment? Denn es fällt mir in diesen immer gleichen Tagen zunehmend schwerer, präsent im Hier und Jetzt zu sein. Viel zu sehr sind meine Gedanken auf eine ferne Zukunft fokussiert, in der ich endlich wieder dies und jenes tun kann und zurück ins normale Leben finde. Angefeuert wird das Ganze im schlimmsten Fall noch durch Ängste der Vergangenheit.
Selbstoptimierung war der Plan
Aber wer bin ich denn jetzt, in diesem Moment? Eine Variante von mir, die es noch zu optimieren gilt? Ich erinnere mich, dass ich vor ein paar Wochen noch völlig übermotiviert, ja fast panisch, all die freie Zeit sinnvoll nutzen wollte. Zum Schreiben, Portugiesisch lernen, ausmisten und weiß der Kuckuck, was noch alles. Nur nicht stillstehen oder trödeln.
Ein bisschen was davon habe ich getan, um den immer gleichen Tagen einen neuen Anstrich zu verpassen. Aber viel zu sehr fehlen mir all die Menschen um mich herum, die Gespräche, das zusammen Lachen und Traurigsein. Ich habe keine einzige Skype-Konferenz mit Freund:innen abgehalten, weil ich das affig finde, wir sitzen immerhin auf dem gleichen Kontinent, oder bestenfalls nur ein paar Straßen auseinander.
Ich habe keine einzige Skype-Konferenz mit Freund:innen abgehalten, weil ich das affig finde, wir sitzen bestenfalls nur ein paar Straßen auseinander.
Stattdessen habe ich viel meditiert, meinen Körper nach links, rechts, oben und unten gedehnt und versucht, meinen Geist mit Mantras bei Laune zu halten. Manchmal war das Seelenbalsam und ich habe Frieden gefunden, manchmal bin ich von der Yogamatte hoch und hab Zerstreuung bei Instagram gesucht oder mich mit einem Nutella-Brötchen erfreut.
Aber zurück zur eigentlichen Frage: Wer bin ich im Moment? In einer Zeit, in der vor lauter Ernsthaftigkeit fast kein Platz für Freude ist, in der Menschen so von ihren Ängsten gesteuert werden, dass ein herzliches Lachen wie eine Rarität im Alltag heraussticht. Eine Zeit, in der Berührung zu Gold wird und in der fremde Menschen miteinander reden, weil das Alleinsein einfach zu laut wird.
Aufhören zu warten, hier und jetzt sein
Es ist ein bisschen, als würden wir alle in der Wartehalle sitzen und warten, dass der elende Corona-Zug endlich abfährt. Bis dahin warten wir, manche genervt, andere in Schockstarre und ein paar wenige nach wie vor gelassen.
Ich will nicht mehr warten! Ich bin jetzt und zwar mit allem. Mit Sorgen und mit mindestens genauso viel Freude.
Ich will nicht mehr warten! Ich bin jetzt und zwar mit allem. Mit Sorgen und mit mindestens genauso viel Freude. Darauf möchte ich meinen Fokus setzen, anstatt das fünfzigste Expert:innen-Video zu schauen, ohne danach wirklich klüger zu sein: Jetzt sein, für mich und alle anderen und vielleicht für eine wirklich schöne neue Welt.
Anm. d. Red.: Wir finden es wichtig, einzelne Perspektiven von Betroffenen und die damit verbundenen Belastungen in der Corona-Pandemie zu zeigen. Wir sind alle auf unsere ganz persönliche Weise betroffen. Die meisten Maßnahmen sind aus unserer Sicht berechtigt und notwenig, um die Pandemie einzudämmen – auch wenn das Einhalten schwerfällt. Alle Artikel zum Thema Corona findest du hier.
Headerbild: Teymi Townsend via Unsplash. („Wahrheit oder Licht“-Button hinzugefügt und zugeschnitten.) Danke dafür!