Ich bin aufgewachsen mit dem Gedanken, nie jemandem auf die Füße zu treten, nie das letzte Dessert zu nehmen, immer zu teilen, mich immer entscheiden zu müssen. Wenn ich noch Hunger hatte, habe ich trotzdem Partner:innen immer die größere Portion gegeben. Wenn ich gerne den letzten Schokoriegel gegessen hätte, habe ich ihn liegen gelassen.
Es gab immer andere, die gelernt haben, dass sie sich alles nehmen dürfen.
Und es gab immer andere, die anders aufgewachsen sind. Die gelernt haben, dass sie sich alles nehmen dürfen, alles haben können. Als Kind war ich sauer auf diese Kinder, schließlich haben sie den letzten Schokoriegel bekommen. Als Erwachsene fand ich diese Menschen frech, „Wieso haben sie nicht so viel Anstand, den letzten Riegel anderen überzulassen?“
Heute beneide ich sie.
Ich musste mich immer entscheiden
Ich wollte schon immer alles haben und musste mich immer entscheiden. Das können wir auf jede Situation beziehen. In der Schule wurden wir gefragt „Willst du Karriere machen oder Kinder bekommen?“ – für mich war immer klar, ich will erfolgreich sein. Ergo: keine Kinder.
Heute bin ich erfolgreich und sage: ich will alles.
Heute bin ich erfolgreich und sage: ich will alles. Und schäme mich auch nicht mehr dafür.
Das ist eine Art, die uns FLINTA* beigebracht wird: Sei zurückhaltend und höflich, denke zuerst an andere, dann an dich. Aber heute geht der Trend in Richtung radikale Selbstfürsorge.
Heute weiß ich, ich kann eine Karriere und Kinder haben.
Was meine Kinder lernen werden
Ich weiß aber, damit bin ich wirklich in der Minderheit, es gibt Kinder, die immer noch so aufwachsen, wie ich aufgewachsen bin und aktiv kann ich daran nur etwas mit eigenen Kindern verändern.
Unsere Kinder werden lernen, dass sie den letzten Riegel haben dürfen.
Und genau das werde ich – unsere Kinder werden lernen, dass sie den letzten Riegel haben dürfen, wenn sie ihn wollen. Der Höflichkeit halber können sie kurz noch fragen, ob jemand ohne diesen Riegel tot umfallen würde. Aber das wars auch.
Du darfst alles essen, du darfst aber auch aufhören, zu essen.
Was ich gelernt habe
Wenn wir schon bei der Kindererziehung sind: ich habe gelernt, aufzuessen, bevor es ein Dessert gab, bevor ich aufstehen durfte. Das zieht sich bis heute, ich habe teilweise keinen Hunger mehr, aber esse. Einfach, weil es noch da ist.
Wenn es irgendwo etwas umsonst gibt, muss ich es haben. Auch wenn ich es nicht will. Das ist aber ein Verhalten, mit dem ich mittlerweile umgehen und das ich bewerten kann.
Das ist ein Verhalten, mit dem ich mittlerweile umgehen kann.
Dazu muss ich, glaube ich, sagen, dass ich nie in Armut gelebt habe. Ich konnte mir immer einen Schokoriegel kaufen, wenn ich einen wollte, habe es aber nicht gemacht. Würde es irgendwo eine Strickjacke im Sale geben und mehrere Menschen sprinteten dahin, um sie zu haben, ich würde loslassen.
Es können auch mal andere verzichten
Heute bin ich aber an dem Punkt, dass, sollte mir jemand auf dem Gehweg entgegen kommen, ich nicht mehr einen Riesenbogen mache, sondern weiter laufe. Es können auch mal andere aus dem Weg gehen, es können auch mal andere auf den Schokoriegel verzichten.
Ich will alles. Und ich nehme es mir.
Passend hierzu die Songempfehlung: Nina Chuba mit Wildberry Lillet – ganz laut im Auto mitsingen!
Headerfoto: Linda Schäffler (Kategorie-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür!