Mein Kryptonit – Du bist die Schwachstelle, die mich stark macht

Irgendwann um kurz vor zehn. Ich bin gerade nach Hause gekommen, die Kopfhörer in der U-Bahn auf ganz laut gestellt. Die Theaterkarten aus dem Briefkasten geholt, vor der Tür ein Paket vorgefunden, die Einkäufe in den Kühlschrank geräumt, die Schuhe über die Hacken gestreift. Platz genommen. Noch nicht umgezogen. Noch immer das eng anliegende rosafarbene Kleid. Wenigstens keine Maskerade mehr. Durchatmen. Feierabend. Und noch immer so rastlos.

Nachtschichten, Termine wahrnehmen, reden, zuhören, sich auf die Zunge beißen, obwohl man schreien möchte. So vieles treibt einen um. Und zuhause. Da ist alles still. „Comfortable silence is so overrated.“

So vieles treibt einen um. Und zuhause. Da ist alles still.

Heute, da kann ich noch nicht abschalten, nicht ruhen. So viele Gedanken irren umher und haben noch keinen sicheren Platz bekommen. Durch die vielen neuen Seelen, denen man in dieser kurios-charmanten Stadt begegnet, passiert es immer wieder, dass ich die alten Geschichten neu erzähle. Meine.

Sie nicht neu erfinde, sondern sie einfach nochmal über die Lippen flattern lasse. Geschichten, die ich unter den Tisch gekehrt hatte. Jene, die plötzlich wieder alte Gefühle neu aufwärmen, mein Inneres schütteln und rütteln. Dieses Erzählen, sich erinnern, lockt einem zuweilen ein Lächeln ins Gesicht. Nicht nur mir, sondern auch meinem noch unbeschriebenen Gegenüber, das lauscht.

Auf der Stelle treten

„Liebes, es ist mir schwer gefallen, die Kiste zu packen und nun zu versenden. Ich hoffe, ich habe wenigstens alles eingepackt und nichts vergessen.“

Einst dachte ich, dass dieser Mensch mein Kryptonit sei. Einer, der die Rolle seines Vorgängers unbewusst, aber sehr gut eingenommen hatte. Jener, der mich hat verrückt werden lassen. Weil ich ihn so sehr wollte. Einer, der mich hat träumen lassen von all den Dingen, die er bereits mit mir angestellt hatte. Mich hat fantasieren lassen von den Dingen, die er noch nicht mit mir gemacht hatte.

Menschen, die einen schwach werden lassen. Immer auf der gleichen Stelle treten, aber nie zur Stelle sind.

Ich glaube ganz fest daran, dass jede:r einen eben solchen Menschen in seinem:ihrem Leben weiß. Diese eine Schwachstelle. Menschen, die einen schwach werden lassen. Immer auf der gleichen Stelle treten, aber nie zur Stelle sind. Und genau das ist der Knackpunkt!

„Aber ich will ihn so sehr!“

Dein Kryptonit kann jemand sein, der:die dich berührt oder eben nie. Jemand, den du kennst. Jemand, der dir fremd ist. Es kann jemand sein, der dir deine Schwachstellen aufzeigt oder neue zum Vorschein bringt. Es kann deine Liebschaft, dein:e Verbündete:r, deine Ablenkung, deine Bekanntschaft sein.

Der, auf dessen Anruf du wochenlang wartest. Der, den du vielleicht nie wiedersehen wirst. Einer, der dich tanzen lässt. Dich scharf werden lässt. Hoffen lässt. Einer, der dich zurücklässt. Mit einem Kübel voller Fragen, die er nicht beantworten wird. Kryptonische Seelen machen einen wahnsinnig. Genau das genießt man so sehr und verflucht es zur selben Zeit.

Ein Kryptonit kommt und geht

Ich glaube, was sie so besonders macht und bezeichnet, ist ihre Unerreichbarkeit. Diese Seelen beschäftigen und nehmen einen ein. Mit ihrer ganzen oder nur dieser speziellen, eigenen Art. Sie tauchen auf und gehen erst einmal nicht. Sie setzen sich fest. In Leib und Seele.

Bis sie irgendwann ersetzt werden. Denn auch dessen bin ich mir sicher, Kryptonit ist ersetz- und austauschbar. Eine Schwachstelle gleicht nicht der anderen, sie erwecken nur dasselbe Gefühl in uns. Für eine Weile. Dieses Zerren, Schmachten, Verlangen.

Sie tun einem jedoch niemals weh, machen dich nicht verwundbar, denn so nah lassen sie dich niemals an sich heran. Sie lassen immer nur erahnen. Wecken Neugier auf das, was der eigenen Vorstellung über den Kopf hinaus wächst. Und sie sind so wichtig!

Diese Seelen verkleinern durch ihr Sein zwar unseren Radius, aber in diesem kleinen bewegen sie ganz viel.

Egal, was sie mit uns veranstalten, es ist immer ein Fest. Denn diese Seelen verkleinern durch ihr Sein zwar unseren Radius, aber in diesem kleinen bewegen sie ganz viel. Nur eben nicht uns. Sich eben nicht mit uns.

Ich wünsche jedem:r einen Kryptonit, aber mindestens genauso sehr das Bewusstsein darüber, dass sie nicht zeitlos sind. Nicht unersetzlich. Nicht die Einen. Der Eine wird nie deine Schwachstelle, aber immer deine Stärke sein. Dich stark machen, auch wenn du schwach wirst.

Ein Kryptonit ist kein Herzfreund. Und das ist okay, denn dies ist nicht seine Aufgabe. Seine Aufgabe ist es, dich wach zu rütteln, bis du aufwachst. Und dies macht er ganz hervorragend, wenn du dir die Zeit lässt. Wenn du ihn lässt. Finden wir uns damit ab. Akzeptieren wir. Lassen wir es zu.

Headerfoto: James Barr via Unsplash. („Gedankenspiel“-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür!

Valerie verliert zwischendurch mal die Orientierung, findet aber immer wieder auf die Spur zurück. Leere Worte gibt es für sie nicht. Ganz im Gegenteil. Valerie hofft, schreibt, lacht, flaniert. Mehr zu Valerie findet ihr auf Instagram.

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