Mein introvertiertes Ich – oder: Warum ich immer zu viel fühle 

Das erste Laub raschelt unter meinen Füßen, als ich die dunkle Straße entlang gehe. Es ist weit nach Mitternacht bei 25 Grad im Hamburger Spätsommer. Wenige hundert Meter vor meiner Wohnung ist mir nicht mehr unwohl in der Dunkelheit, ein bisschen finde ich es sogar schade, als ich die Tür aufschließe. Ich hätte noch Stunden laufen können. Denn meine Gedanken rennen. Der letzte Mojito für diesen Sommer und ein langes Gespräch mit alten Freunden haben das angeschubst, was mir schon seit heute Morgen immer wieder von hinten in die Hacken tritt. Ich wusste, dass es kommt.

Ich schleiche durch den Flur, weil im Nebenzimmer seit dieser Woche ein neuer Mensch schläft, mit dem ich die Wohnung von nun an teile, und ziehe meine Schuhe aus. Die Kopfhörer nehme ich gar nicht erst aus den Ohren, als ich mich aufs Bett setze und dem Gewicht in meiner Brust die Bühne überlasse. Ich weine nicht, falls du das denkst, ich lasse nur meine Innenwelt frei. Und drehe die Musik lauter. Ich bin froh, allein zu sein, wenn ich jemanden vermisse.

Es ist einer dieser introvertierten Momente, die ich mit mir selbst haben muss. Ich muss den vollen Umfang meiner Gefühle durchleben, bevor ich darüber spreche oder ein Problem daraus mache, denn: Ich fühle grundsätzlich zu viel. Ich meine das nur bedingt romantisch. Mir gehen eigentlich alle Dinge ein bisschen zu nahe.

Ich nehme die Welt ziemlich persönlich.

Ob es die Nachrichten sind, die mir eine spürbare Wut im Bauch machen; ein Blogartikel, der mich so begeistert, dass ich sofort aufspringe und mein ganzes Zimmer auf den Kopf stelle; ein Stellenangebot, das mir kribbelige Finger macht; der unerwartete Regen, der meine Beine in Blei verwandelt; oder ein Drucker, der absichtlich an dem Tag den Geist aufgibt, an dem ich ihn dringend brauche. Ich nehme die Welt ziemlich persönlich.

Und genau so ist es mit anderen Menschen. Ich brauche eine ganze Weile, bis ich jemanden mag, aber wenn, dann so richtig.

 

Deep, deep friendships.

Ich mag dich nicht nur, weil wir den Lieblingswein teilen.
Und du so witzig bist, wenn wir zusammen trinken.
Ich mag dich nicht für den Sprung vom Zehnmeterbrett, für den du dich selbst feierst.
Aber wahrscheinlich dafür, dass du mich herausforderst, wenigstens mit Arschbombe vom Beckenrand zu springen.

Ich mag dich nicht, weil du dich selbst so klasse findest.
Ich mag dich für deine ehrlichen Momente beim dritten Glas Wein.
Ich mag dich, weil ich in dir etwas von mir erkenne.
Weil ich sehe, dass du schon eine Menge erlebt hast.
Und ich weiß, dass dich das zu einer großartigen Person machen wird.

 

Aber ich komme nicht mit dir klar. Deine Lautstärke und dein aggressives Trommeln strengen mich an. Und oberflächlich funktioniere ich nicht.

Es tut mir weh, wenn es eine ewige Herausforderung ist. Wenn ich einer Person einfach nicht näher kommen darf, weil alle Fragen, die tiefer gehen als “Was ist deine Lieblingsfarbe?” irgendwie tabu sind. Für mich sind solche Beziehungen, die nur aus dem Offensichtlichen bestehen, sinnentleert und anstrengend. Sie machen mich wütend, müde und verzweifelt, weil es sich anfühlt, als würde ich ständig so viel mehr investieren. Mehr Interesse, mehr Zuneigung und mehr Energie.

Deshalb muss ich manche Menschen irgendwann aus meinem Leben streichen.

Und deshalb muss ich manche Menschen irgendwann aus meinem Leben streichen. Ich gehe, wenn meine Erwartungen mich ins Straucheln bringen, weil ich konstant tiefer drin stecke als der andere. Wenn ich das Gefühl habe, dass nie auch nur annähernd dasselbe zurückkommt. Was vielleicht nicht stimmt. Vielleicht mögen wir uns zu sehr, um so unterschiedlich zu sein.

Das ändert nicht, dass ich dich vermisse. Wenn ich jemanden in mein Leben lasse, dann auf Dauer. Und er ist irgendwie auch dann noch da, wenn ich ihn nicht einmal mehr mögen kann, wenn ich den Kontakt abgebrochen habe, wenn das schlechte Gewissen mich zerfrisst, weil meine letzten Worte so viel härter waren als geplant.

Draußen kommt kein Gewitter. Alles ist ruhig.

Headerfoto: Andalucía Andaluía via Unsplash. („Wahrheit oder Licht“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

Dieser Text erschien zuerst hier.

Sabine von A HUNGRY MIND stolpert oft über ihre eigenen Füße und noch öfter über soziale Konventionen. Manchmal fragt sie sich, ob es klug war, sich in ihre Wahlheimat Hamburg zu verlieben. Das Schietwetter hält andererseits super als Grund fürs Alleinsein her - wer will schon ständig erklären, was „introvertiert“ heißt? Tief drinnen glaubt Sabine trotz allem ans Gute: Lasst uns den Planeten retten und jeden Extremismus beenden! Und wenn das nicht geht, dann wenigstens bei uns selbst anfangen. 

2 Comments

  • Hi,
    richtig toller Artikel! Was aber auch noch super interessant gewesen wäre ist die Frage, wie man mit extrovertierten Menschen umgeht gerade bei Dating/Job/Freundschaft.
    Wir haben einen Podcast darüber, wie es ist als introvertiere Person in einer extrovertierten Welt zu leben. Daria hat z.B. die beobachtung gemacht, dass Männer über 30 sich extrem schnell binden wollen, ihr das aber viel zu schnell ist. Die Folge könnt ihr hier hören:

    https://soundcloud.com/trashgefuehle/abblitzgewitter-und-herbstblues

  • Hey!
    Schöner Artikel, nur die Frage auf das Warum ist nun eigentlich nicht beantwortet damit. Dann wäre die Überschrift nicht ganz korrekt :).
    Haben Sie sich mal mit dem Thema Hochsensibilität beschäftigt? Vielleicht klärt das eher ein ‚warum‘ :).
    Lg Carolin

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