Triggerwarnung: In diesem Artikel werden zu Aufklärungszwecken misogyne und sexistische Aussagen und Denkmuster reproduziert. Außerdem werden Suizid und Verherrlichung von Gewalt an Frauen angedeutet.
„Ich bin der Typ Mann, der nicht mal die kleinste Aufmerksamkeit von Frauen bekommt, geschweige denn an Sex kommt. Es ist schwer als kleiner, hässlicher Mann.“
Diesen Kommentar habe ich unter einem unserer Texte bei „im gegenteil“ entdeckt und er hat mich irritiert, weil er mich in seiner Sprache an eine Bewegung erinnert, mit der ich mich seit längerer Zeit beschäftige: der Incel-Bewegung.
Incels sind nicht in der Lage, eine Partnerin zu finden, aber glauben, als Männer einen Anspruch auf Sex zu haben.
Incels sind „Involuntary Celibats“, unfreiwillig enthaltsam lebende Männer, die nicht in der Lage sind, eine Partnerin zu finden, aber glauben, einen natürlichen Anspruch auf Sex zu haben. Weil sie Männer sind. Die Schuld für ihre Situation wiederum geben sie Frauen. Klingt krass? Ist es auch. Und viel gefährlicher, als wir uns vorstellen können.
In der „Mannosphäre“
Ich habe mich auf eine kleine Recherche begeben, hinein ins Herz von Antifeminismus, Frauenhass und Misogynie, in die sogenannte „Mannosphäre“. Ich habe Einschätzungen von Expert:innen gelesen, bin tiefer in die dahinterliegende Ideologie eingestiegen. Und ich habe dabei viel über Männlichkeit nachgedacht. Und, ganz ohne Anmeldung, habe ich Konversationen in einem der bekanntesten Incel-Onlineforen mitverfolgen können. Alles, was ich zuvor über diese Bewegung gelesen hatte, wurde dort bestätigt. Es war schockierend. Ich möchte euch daher wirklich ans Herz legen: begebt euch nicht in diese Räume und schützt euch vor Aussagen, die von Incels getroffen werden.
Die Incel-Bewegung
Die Bezeichnung „Incel“ wurde im Jahr 1997 von einer kanadischen Studentin geprägt, die durch ein Onlineforum Menschen einen Raum schaffen wollte, die (noch) keinen Sex hatten, ihn aber gerne hätten. Erst im Jahr 2000, als sie das Forum als Moderatorin verließ, wurde es von Männern gekapert, die es in einen Raum voller Hass verwandelten.
Incels sind meist Männer, die nicht dem gesellschaftlichen Schönheitsideal entsprechen.
Incels sind in den meisten Fällen Männer, die nicht der Normschönheit, dem gesellschaftlichen Schönheitsideal, entsprechen und die, nach eigenen Angaben, Schwierigkeiten mit sozialer Interaktion, besonders mit Frauen, haben. Die Incel-Ideologie teilt Männer nach ihrem Aussehen in „Chads“, „Normies“ und „Incels“ ein. „Chad“ ist der Idealtypus Mann, groß, muskulös, weiß, heterosexuell, gut verdienend, selbstbewusst. „Normies“ entsprechen einem unauffälligen Normaltypus, während „Incels“ sich selbst ganz unten in dieser Rangordnung sehen.
Räume voller Hass
In ihrem Rollenverständnis steht ihnen als Männern jedoch ein Recht auf Sex zu und da beginnt für Incels das eigentliche Problem: Vor der sexuellen Revolution habe es für jeden Mann eine passende Frau gegeben, heute würden Frauen, ungeachtet ihrer eigenen Attraktivität, nur noch Partnerschaften mit „Chads“ anstreben, dem männlichen Ideal- und somit Feindbild der Incels, so die Ideologie. Frauen hätten durch den Feminismus zu hohe und unfaire Ansprüche an Männer entwickelt. Dadurch sei ein Ungleichgewicht bei der Partnersuche entstanden, das nicht normschöne Männer benachteiligt.
Die Frustration verwandelt sich schnell in Wut und Hass auf die Frauen, die sie nicht wollen.
Die daraus entstandene Frustration verwandelt sich schnell in Wut und Hass auf die Frauen, die sie nicht wollen. In virtuellen Foren entstehen Echokammern, in denen Incels auf Gleichgesinnte stoßen. Die Online-Bewegung kommuniziert in Memes und Codes. Eine Dehumanisierung von Frauen steht an der Tagesordnung: Sie werden nicht als Frauen bezeichnet, sondern als „femoids“ (female humanoids), also weibliche, menschenähnliche Geschöpfe, und manchmal sogar als „Löcher“ oder „Toiletten“. In dem Incel-Onlineforum, in dem ich recherchiert habe, bin ich über Aussagen gestolpert wie “Wenn wir (Männer) gezwungen sind, Steuern zu zahlen, sind “foids” (Frauen) gezwungen, uns ihre Muschis zu geben” oder “Wenn wir Männer kein Recht auf Sex haben, haben Frauen kein Recht auf Sicherheit”, was für mich eine klare Drohung enthält.
Verborgene Gefahr
Incels radikalisieren sich oft auffällig jung, der überwiegende Teil der Szene ist zwischen 16 und 21 Jahren alt. Statt sich in gegenseitigem Verständnis positiv zu bestärken, machen sie sich in Foren aber gegenseitig runter, bewerten ihr Äußeres und provozieren sogar Suizide unter ihren Mitgliedern. Pseudo-wissenschaftliche Abhandlungen sollen Gewalt an Frauen legitimieren, sogar glorifizieren. Die äußerste Form dieser Misogynie ist dabei der Femizid, die Tötung von Frauen, weil sie eben Frauen sind. Neben Femiziden werden auch rechtsextreme Attentate verherrlicht, deren Täter wie der norwegische Massenmörder Anders Breivik, sowie der Attentäter von Halle 2019, auffällig oft eine Nähe zur Incel-Szene aufweisen.
Die äußerste Form dieser Misogynie ist dabei der Femizid, die Tötung von Frauen, weil sie eben Frauen sind.
Weil in Onlineforen die Anonymität gut gewahrt werden kann, fällt die Fahndung und Zuordnung zu realen Personen sehr schwer. Vieles spielt sich lediglich im Internet, daher fühlen sich Behörden oft nicht zuständig. Die Foren bleiben oft gänzlich unmoderiert und ungefiltert, was es schwer macht, Mitglieder gezielt mit Aufklärungskampagnen zu erreichen. Über die Anzahl deutscher Incels sind sich Behörden uneinig, da es kein deutsches Incel-Forum gibt und deutsche Mitglieder vor allem in englischsprachigen US-amerikanischen Foren unterwegs sind.
Männliche Einsamkeit
In einer Studie von Equimondo und Axe hat einer von fünf Männern ausgesagt, keine engen Freundschaften zu führen. Den meisten Männern wird von klein auf ein anderes Verhältnis zu ihren Gefühlen ansozialisiert als Frauen. Sie lernen, ihre Emotionen zu unterdrücken und keine Verletzlichkeit zu zeigen. Aus diesem Grund fragen Männer ihre männlichen Freunde viel seltener nach emotionaler Unterstützung oder sagen ihnen, dass sie sie lieb haben. Männliche Isolation nimmt zu, während das Aufkommen von virtuellen Communities es jungen Männern mit sozialen Ängsten ermöglicht, auf reale Freundschaften zu verzichten und stattdessen virtuelle Freundschaften zu schließen – zum Beispiel in gefährlichen Incel-Foren.
Die Wahrscheinlichkeit, dass Männer durch Selbstmord sterben, ist doppelt so hoch wie bei Frauen.
Ohne eine Möglichkeit, ihre Emotionen auszudrücken, entwickeln Männer, eher als Frauen, gewaltvolle oder suizidale Gedanken. Global gesehen ist die Wahrscheinlichkeit, dass Männer durch Selbstmord sterben, doppelt so hoch wie bei Frauen. Die Studie hat außerdem ergeben, dass junge Männer, die schädliche Männlichkeitsnormen wie unrealistische Schönheitsideale, starre Geschlechterrollen und Homofeindlichkeit unterstützen, eher an Selbstmordgedanken leiden.
Toxische Männlichkeit kann also Einsamkeit, Isolation und psychische Erkrankungen verursachen. Irgendwas muss unternommen werden. Aber was?
Männlichkeiten und was wir tun können
Wir müssen über Männlichkeiten reden. Und wir dürfen das Reden über Männlichkeiten nicht lediglich Männern überlassen. Denn: „Männlichkeit ist kein reines Männerthema. Männlichkeit betrifft uns alle, limitiert uns alle, schränkt uns alle ein“, sagt Fabian Hart, Host des Podcasts „Zart Bleiben“. Antifeministische Bewegungen wie die Incels sind Auswüchse von etwas, das viel tiefer geht und weitaus länger Bestand hat: das Patriarchat – und, daraus resultierend, toxische Männlichkeit.
Wir sind alle geprägt von patriarchalen Rollenbildern, Schönheitsidealen und einer ungesunden Vorstellung von Männlichkeit.
Wir alle sind geprägt von patriarchalen Rollenbildern, Schönheitsidealen und einer ungesunden Vorstellung von Männlichkeit. Es braucht daher mehr gesunde, öffentliche Vorbilder für junge Männer und eine Thematisierung in der Schule und in anderen Räumen, die Jugendliche erreichen. Es braucht mehr Repräsentation nicht normschöner Männerkörper in den Medien und in der Öffentlichkeit. Es braucht noch mehr Engagement gegen Hassrede im Internet, aber auch Räume, in denen Männer, die aus antifeministischen Kreisen aussteigen wollen, sich sicher und respektiert fühlen können. Es braucht psychologische Beratungsangebote, die niederschwellig und proaktiv auf Betroffene zugehen. Es braucht letztendlich aber auch ein neues Verständnis von Männlichkeit durch uns alle, mehr Sensibilität und Zärtlichkeit unter Männern gegenüber Männern.
Es braucht ein neues Verständnis von Männlichkeit durch uns alle.
Natürlich sind die wenigsten Männer Incels und Antifeministen. Aber alle Männer stehen in der Verantwortung, ihr eigenes Verhalten und ihre Privilegien zu reflektieren, ihr Denken auf misogyne Muster zu überprüfen und besonders ihre männlichen Freunde für Frauenfeindlichkeit und Sexismus in die Verantwortung zu ziehen. Alle Männer stehen in der Verantwortung, aufeinander aufzupassen.
Solltest du dich oder eine dir bekannte Person in diesem Text und in den dargestellten Denkmustern wiederfinden, möchten wir dir ans Herz legen, Hilfe zu suchen. Angebote wie die kostenlose Telefonseelsorge können dich an Ausstiegsprogramme weitervermitteln. Eine Option, um dich in einen Austausch mit Gleichgesinnten zu bringen, ist das Reddit-Subforum IncelExit, ein Ort für Menschen, “die in die Incel-Community hineingezogen wurden, aber sich Unterstützung und Hilfe beim Ausstieg aus der Szene wünschen”. Bitte beachte, dass dieses Forum nicht von Expert:innen moderiert wird.
Wertvolle Aufklärung zu (toxischer) Männlichkeit findest du auch auf Instagram:
@mattxiv
@rethinkingmanhood
@toxic.mra
@sheisnotyourrehab
Außerdem hat das Y-Kollektiv vor zwei Jahren eine wichtige Doku zum Thema Incels gedreht.
Im zweiten Teil der Reihe zum Thema Männlichkeit werde ich mich mit dem antifeministischen Internetphänomen Andrew Tate auseinandersetzen.
Headerfoto: cottonbro (Kategorie-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür!