Frauen missverstehen den Neo-Feminismus als Ego-Trip, während die Männer immer ratloser werden. Wir stecken in neuen Rollenklischees fest, die mit echter Gleichberechtigung nichts zu tun haben. Wahre Selbsterkenntnis findet im Austausch mit Anderen statt, meint Anna Craemer, Trainerin der Contextuellen Coaching Academie und Inhaberin des Philosophie-Blogs „Denkwandel“.
Unzählige Frauen unserer Generation drehen sich im Dauer-Selbstinszenierungs- und Selbstoptimierungsmodus ständig um den eigenen Bauchnabel.
Mit Ayurveda auf Bali entgiften, Achtsamkeit mit den eigenen Bedürfnissen pflegen und auf einem Stein sitzend bei malerischem Sonnenaufgang meditieren: Unzählige Frauen unserer Generation drehen sich im Dauer-Selbstinszenierungs- und Selbstoptimierungsmodus ständig um den eigenen Bauchnabel. Das Credo dahinter: Freiheit und Unabhängigkeit – um jeden Preis. So gehen die Gesprächsthemen und Interessen leider oft nicht über das eigene Ego hinaus. Eine partnerschaftliche Beziehung und das Interesse am Anderen fallen dabei oft hinten runter.
Unabhängigkeit sticht Nähe
Wer sich einmal durch den normalen Instagram-Feed gekämpft hat, der weiß: Die sogenannte „Durchschnitts-Skinny-Bitch“, wie sie Comedian Carolin Kebekus treffend bezeichnet, ist allgegenwärtig. Sie aalt sich braungebrannt am weißen Strand, vor ihr der Horizont eines türkisblauen, glasklaren Meeres. Wahlweise hebt sie im ultraknappen Sexy-Bitch-Look schwere Gewichte und hat noch immer ein Lächeln auf den Lippen, aber wenig Schweiß auf der Stirn.
Kurzum: Die Durchschnitts-Insta-Queen ist wie unzählige andere ihrer Insta-Genossinnen perfekt und erlebt immer mehr als andere.
Kurzum: Die Durchschnitts-Insta-Queen ist wie unzählige andere ihrer Insta-Genossinnen perfekt und erlebt immer mehr als andere. Ziel dieser Selbstinszenierung ist es meist, die eigene Unabhängigkeit in all ihren Facetten zu demonstrieren. Für einen Mann gibt es in dieser Glitzerwelt keinen Platz – und wenn doch, dann nur, wenn er sich der grenzenlosen Gleichberechtigung seiner Auserwählten – natürlich zu ihren Bedingungen – unterwirft und bereitwillig die Fotos schießt.
Denn eines steht für die Anhängerinnen des Neo-Feminismus fest: Der Mann soll ihre einseitigen Ansprüche erfüllen. Die Folge: Er verkommt zum persönlichen Gefühlssklaven. Genau in diesem Punkt liegt das Zeitgeist-Problem. Junge Frauen nehmen die Unterdrückung ihrer Vorgängerinnen zum Anlass,um nun in ein neues Extrem zu geraten und Männer zu dominieren. Doch auf diese Weise können Beziehungen einfach nicht funktionieren.
Damit stecken wir erneut in Rollenklischees fest – nur, dass die Rollen eben vertauscht sind. Die Frau ist die Siegerin, der Mann der Loser – doch gewinnen wird keiner.
Zusammen ist man weniger allein
Auf der Jagd nach ständiger Selbstoptimierung verlangen Frauen einen ebenso perfekten Vorzeigemann. Er darf keine Macken haben und muss immer einwandfrei funktionieren. Das Potenzial, gemeinsam an sich zu arbeiten und auch an schwierigen Situationen zu wachsen, fällt der oberflächlichen Dauerperfektion zum Opfer. Die Insta-Frauen wollen frei sein von allem, was dieser totalen Unabhängigkeit entgegenstrebt.
Die Frau will Kinder und Karriere alleine unter einen Hut bringen – und unter dem hat ein Mann meistens keinen Platz mehr.
Und das führt häufig dazu, dass sie immer „männlicher“ werden. Anstatt zusammenzuarbeiten und die Fähigkeiten beider Geschlechter wechselseitig zu nutzen, wollen sie unter größter Anstrengung alles alleine machen. Die Frau will Kinder und Karriere alleine unter einen Hut bringen – und unter dem hat ein Mann meistens keinen Platz mehr. Im Endeffekt sind die neo-feministischen Freiheitskämpferinnen also nicht glücklicher – sie sind oft überfordert, verzweifelt und einsam.
Früher waren sie von Männern abhängig, heute sind sie abhängig von ihrer eigenen Unabhängigkeit. Ihre Freiheit ist ihr höchstes Gut und sobald sie diese auch nur im Geringsten bedroht sehen, herrscht Alarmstufe Rot. Doch solange sie von diesem Mechanismus getrieben sind, ist es nicht möglich, die so heiß ersehnte Erfüllung zu erreichen. Anstatt den naheliegenden Weg zu gehen und ihre Erfüllung in der Verbindung mit dem eigenen Partner zu erschaffen, scheitern sie tagtäglich an ihren unerfüllten Erwartungen.
Junge Frauen haben heutzutage meist einfach vergessen, worum es in einer Partnerschaft wirklich geht – nämlich um Liebe, Vertrauen und Selbsterkenntnis durch und mit dem Partner. Im ersten Schritt bedingt das, die Andersartigkeit des Anderen zu erforschen, voll zu akzeptieren und begeistert willkommen zu heißen, statt ihn dem eigenen Geschlecht angleichen zu wollen. Solange das nicht der Fall ist, endet jegliche Diskussion zwischen beiden zwangsläufig im Kampf: Wer ist das bessere Geschlecht?
Der Zwang, sich im Wettstreit einander anzugleichen, verhindert es, die Schönheit in der Andersartigkeit des Anderen zu erkennen.
Der Zwang, sich im Wettstreit einander anzugleichen, verhindert es, die Schönheit in der Andersartigkeit des Anderen zu erkennen. Wer glaubt, sich nur beim Yoga und der Konzentration auf den eigenen Bauchnabel selbst nah sein zu können, verpasst die Möglichkeit, Selbsterkenntnis durch die Verschmelzung mit dem Anderen zu erlangen.
‚Frei für’ statt ‚frei von’
Wenn wir statt Geschlechterkampf Geschlechterfrieden haben wollen, müssen wir umdenken. Frauen wollen auf keinen Fall so sein wie die Vertreterinnen der vorherigen Generation – gesellschaftlich und finanziell abhängig von ihrem Mann. Sie wollen also Freiheit von etwas haben, was verständlich ist. Doch was wollen sie mit der neugewonnen Freiheit anfangen? Wollen sie auch Freiheit für etwas? Was ist der nächste Schritt? Das Bild der „Skinny Bitch“ scheint doch eher ein Symbol der Orientierungslosigkeit zu sein. Was sind neue Ziele, für die es sich einzusetzen lohnt?
Tatsächlich gibt es eben keinen allgemein verbindlichen Leitfaden, der Frauen sagt, was richtig und was falsch ist – oder was wahre Freiheit überhaupt bedeutet.
Frauen von heute laufen einem neuen Rollenbild hinterher – so mein Eindruck. Doch damit sind sie in ihrer Struktur genauso wertkonservativ wie ihre Vorgängerinnen. Tatsächlich gibt es eben keinen allgemein verbindlichen Leitfaden, der Frauen sagt, was richtig und was falsch ist – oder was wahre Freiheit überhaupt bedeutet.
Das anzuerkennen und nicht diejenigen zu stigmatisieren, die sich dem Zeitgeist nicht unterwerfen – und dabei möglicherweise sogar glücklicher sind -, wäre zumindest ein erster Schritt. Erst dann können sie herausfinden, wie die durch unsere Vorgängerinnen hart erkämpfte Unabhängigkeit genutzt werden kann, sodass sie nicht zu Einsamkeit und anstrengendem Alleingang führt, sondern zu einer wahrhaft erfüllten Kooperation.
Headerfoto: Ben Weber via Unsplash.com. („Gesellschaftsspiel“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!