Stell dir vor, du bist ein kleines süßes Nagetier, hüpfst voller jugendlichem Leichtsinn in dein Lieblingsspielzeug. Lange warst du zu klein und die körperliche Kraft fehlte noch, das rot leuchtende Rädchen zum Rotieren zu bringen. Endlich ist der Tag gekommen, um dich herum Jubelrufe deiner Freund:innen und Familie: Du schaffst es! Leg los! Trau dich!
Du hast so oft gesehen, wie die anderen sich stundenlang mit nichts anderem beschäftigen als sich genau in diesem Rädchen auszupowern. Dieses Rad muss die Erfüllung jedes Lebensinhaltes sein, denkst du. Alles, was du in dem Moment willst, ist, es auch endlich zu schaffen: Das Rädchen soll sich drehen und das aus deiner eigenen Kraft.
Der erste Schritt. Vorsichtig und noch etwas zurückhaltend setzt du ein Füßchen nach dem anderen auf die kleinen Tritte. Ein bisschen unangenehm fühlt es sich an. Die Stäbe leuchten zwar rot und warm, fühlen sich unter deinen Sohlen aber hart und kalt an.
Alles fühlt sich richtig an, du bist stolz. Anerkennung von außen für dein Durchhaltevermögen und deine Leistung.
Egal, niemand hat gesagt, es wird leicht werden. „Das Leben ist kein Ponyhof“, hörst du es in deinen Ohren klingen. Warum eigentlich nicht? Vor ein paar Jahren war es noch das Schönste, ausgelassen über eine Wiese zu tollen und jetzt soll das alles Vergangenheit sein? Hmm, denkst du kleines Hamsterchen, sie sind älter, erfahrener und haben schon so viel erlebt. Sie müssen es besser wissen.
Also los, einen Fuß vor den anderen. Eine Sprosse weiter und du merkst, wie sich alles um dich herum in Bewegung setzt. Gar nicht so einfach, nicht zu vertreten, fast hättest du dir bei einem Sturz dein kleines Näschen einklemmt. Konzentrier dich, Fokus auf die Sprossen und du beginnst, alles andere auszublenden.
Du denkst, du bist auf dem richtigen Weg und von außen hörst du wieder deine Familie jubeln. Alles fühlt sich richtig an, du bist stolz. Anerkennung von außen für dein Durchhaltevermögen und deine Leistung, in so jungen Jahren schon das Rad zum Rollen zu bringen. Du leistest deinen Beitrag, vergisst allerdings, dabei auf dein Herz zu hören.
Tag ein, Tag aus. Schritt für Schritt weiter nach „oben“.
Jahre vergehen. Du wirst immer schneller und immer geübter darin, deine Füßchen im richtigen Abstand auf die Sprossen zu setzen, damit das Rad nicht aufhört und sich immer schneller dreht. Du denkst, du erklimmst eine Leiter, in Wirklichkeit wiederholt sich alles und du kommst zwar für andere, jedoch nie für dich selbst wirklich voran.
Da die Bewegung zur Routine geworden ist, schaltest du irgendwann deinen Kopf aus, dein Geist wird leiser und irgendwo hörst du wieder dein kleines Herzchen pochen. Dein Herz ist schon ziemlich erschöpft vom schnellen Schlagen. Es klopft immer lauter, sodass du die dumpfen Schläge und das leise Keuchen irgendwann nicht mehr ignorieren kannst.
Du fragst dein Herz, was denn los ist, es war doch sonst immer wie selbstverständlich einfach da. Dein Herz flüstert mit gebrochenem Stimmchen zurück: „Ich kann nicht mehr. Bitte gönn mir eine Pause.“
Du denkst, du erklimmst eine Leiter, in Wirklichkeit wiederholt sich alles und du kommst zwar für andere, jedoch nie für dich selbst wirklich voran.
Du hältst kurz inne und merkst, wie dein Nacken vom immerwährenden nach oben Gucken schmerzt und brennt. Du wendest deinen Blick zur Seite und siehst deine Freund:innen, wie sie wie du strampeln und mit verzerrten Gesichtern versuchen, immer wieder die nächste Sprosse zu erreichen.
Deine Familie ruft dir immer noch zu, wie froh sie sind, dass du so ein fleißiges, aufstrebendes Hamsterchen geworden bist und raten dir durchzuhalten, auszuhalten – alles zu geben, um nicht vom „richtigen“ Weg abzukommen.
Dann Stillstand. Sonne auf der Haut.
Die ersten Tränen laufen über dein Gesicht, als du dein eigenes Herz weinen siehst. Angst und Ungewissheit breiten sich in dir aus und auf einmal weißt du nicht mehr, was richtig und falsch ist.
Wie kann es richtig sein, sich zu quälen, die Stimme deines Körpers und deiner Seele zu ignorieren, um nach unzählbar kostbaren Lebensstunden mit zermarterten Knochen und einem gebrochenen Herz beim letzten Atemzug erschöpft aus dem Rädchen zu kippen? Das soll deine Aufgabe gewesen sein? Deswegen sollst du auf dieser wunderschönen Erde sein?
Alles in dir wehrt sich, den nächsten Schritt auf der in deinem Kopf geschaffenen Leiter zu tun. Du wendest dich wieder and dein Herz blickt dich mit verständnisvollem, unendlich liebevollem Blick an und sagt: „Folge und vertraue mir.“
Du nimmst allen Mut zusammen und bleibst einfach stehen. Du setzt ganz vorsichtig dein erstes Füßchen raus aus dem Rad, als es nach lautem Knirschen und Klappern endlich zum Stehen kommt. Frische, grüne Grashalme kitzeln deine Zehen und weiche, warme Sonnenstrahlen empfangen dein Gesicht in deiner neuen, zauberhaften Welt.
Du weißt, du hast das Richtige getan, denn dein Herz lügt nicht.
Headerfoto: Olena Sergienko via Unsplash. (Kategorie-Button hinzugefügt, Bild gecroppt.) Danke dafür!