„Warst du eigentlich jemals verliebt?“ Ich nehme dumpf die verschiedenen Stimmen der Partygesellschaft im Inneren wahr, als jemand die schwere Eingangstür öffnet. Höre den Regen, der hart auf das Vordach über uns niederströmt. Ich antworte nicht, sondern nehme einen kräftigen Zug von meiner Zigarette. Einige Tropfen hatten mich getroffen und das Papier schon aufgeweicht. Auch diese eindringliche Frage hat mich nicht verfehlt. Ich atme aus und sage: „Ich weiß es nicht.“
Ich atme aus und sage: „Ich weiß es nicht.“
Ich schaue in das erwartungsvolle Gesicht meiner Schwester und sage erneut: „Ich weiß es nicht.“ Schweigen. Dann schaue ich der nassen Kippe nach, die ich entsorge und füge hinzu: „Ist das nicht komisch?“ Ihre Augen klagen nicht an. Sie fordern nicht. Sie sind nicht überrascht. Meine Schwester nimmt diese Antwort einfach an. Sie sagt dazu nichts, sie nickt mir zu und begleitet mich zurück in den Raum voller bekannter Seelen, die schon darauf warten, dass das Gewusel fröhlich weitergeht, das wir Stunden zuvor gestartet haben.
Eine piksende Frage
Als ich im Zug sitze, auf dem Weg zurück in mein eigentliches Leben, so nenne ich es, hallt diese Frage nach. So sehr, dass jeder Songtext aus den Kopfhörern verdrängt wird durch mein Gedankenspiel. Ja, ist das nicht komisch? Diese Frage wirbelt alles in mir umher. Und durcheinander. Ich ertappe mich, wie ich irritiert und grübelnd den Sitz vor mir anstarre. Die zwei „Klipser“ vor mir, die das graue Tischbrettchen halten, starren grimmig zurück.
Diese Frage wirbelt alles in mir umher. Und durcheinander.
Nicht ärgern, nur wundern. Ich wundere mich, da doch ich stets diejenige bin, die ihrem Gegenüber piksende Fragen stellt. Nicht, um vorzuwerfen, sondern um zum Nachdenken anzuregen. Ich wundere mich, dass gerade meine Schwester diese Frage gestellt hat. Sie, die weiß, dass ich zwei langjährige Beziehungen hinter mir habe, eine intensive Kurzzeitliebelei und so einige ungewöhnliche zwischenmenschliche Begegnungen. Sie, die die Scherbenhaufen versucht hat. zusammenzusetzen. Immer wieder. Sie, die half mein Inneres wieder zu sortieren.
Sie, die die Scherbenhaufen versucht hat, zusammenzusetzen. Immer wieder.
Sie, die mitfühlend gelacht hat, als ich Celine Dion und Al Greens Klassiker „How can you mend a broken heart“ unzählige Male laut in meinem Apartment geschmettert habe. Sie, die mir Tipps gab, weil sie wohl vergessen hatte, dass ich nicht mehr nur ihre kleine Schwester bin, sondern nun auch eine erwachsene Frau. Sie, die mir sagte, dass ich eine Idiotin sei und später nichts bereuen solle. Sie, die all diese Zeiten begleitet hat. Auch wenn hunderte Kilometer zwischen uns lagen. Und dennoch fragt sie mich, ob ich jemals verliebt war.
Was war das, wenn nicht Verliebtsein?
Noch Tage später rattern Erinnerungen in der U-Bahn durch meinen Kopf und durchfahren meinen Körper. Erinnerungen, die mich zum Schmunzeln bringen. Erinnerungen, die verdammt weh tun. Erinnerungen, die weitere Fragen aufwerfen. Wenn ich keine Antwort weiß, warum bin ich dann hunderte Kilometer alleine zu jemandem in eine andere Stadt, in eine mir unbekannte Welt, gezogen? Warum habe ich mein dreizehn Quadratmeter kleines Zimmer über ein halbes Jahr mit jemandem geteilt? Warum habe ich nicht nur einen Brief geschrieben? Warum habe ich mir so oft spontan die Beine rasiert, obwohl ich andere Pläne hatte? Warum habe ich diese Konzertkarten gekauft? Eine gemeinsame Reise gebucht? Warum so viel gegrübelt? Tränen geschluckt? Celine Dion geschmettert und Lieblingsgerichte gekocht? Eltern kennengelernt und Kindergartenfreund:innen?
Warum habe ich mich so oft selbst vergessen? Mich selbst hinterfragt? Wenn nicht für das Verliebtsein?
Warum habe ich mich so oft selbst vergessen? Mich selbst hinterfragt? Wenn nicht für das Verliebtsein? Warum habe ich aus Trotz das stundenlang mit Herz gebackene Brot in die Tonne geworfen und bin auf Partys gegangen, auf denen ich mich nicht wohl gefühlt habe? Wenn nicht aus einem Verliebtsein heraus? Warum hatte ich Wünsche, aber keine Erwartungen? Warum hatte ich Ideen, aber keine konkreten Pläne?
Verliebt in das Leben
Als ich an einem späten Abend nach Dienstschluss die U-Bahn-Türen in beide Richtungen öffne, wird mir so langsam klar, dass ich die Antwort kenne. Dass meine Schwester die Antwort schon lange kannte. Als sie mir diese Frage stellte, hatte sie keine Erwartungen, aber einen Wunsch. Dass ich dieses Gefühl erleben und erkennen darf. Und dabei rede ich nicht von einer kleinen Gang Schmetterlinge, die gelegentlich durch meinen Bauch fliegt. Nein, das Große und Ganze. Diesen Wumms und das Tamtam. Das Echte und das Laute. Das Unerbittliche und das Schöne. Das Nachwirkende und das Überwältigende. Ich kenne die Antwort.
Das Echte und das Laute. Das Unerbittliche und das Schöne. Das Nachwirkende und das Überwältigende.
Ich bin verliebt in das Leben. Die Musik. Das Schreiben. Und die Momente mit meinen Seelenkumpan:innen. In die Fotografie und das Reisen. In den Mut und in das Hinterfragen. In die Erinnerungen und die Ideen, die ich hatte. In Gerüche und Geschmäcker. In das Lachen und das Leiden. In das Sinnieren und den Schabernack. In die Erfahrungen und Zufälle. In die Zitate und die Kunst. In das Erleben und Entdecken. Das Ferne und das Nahe. In das Reflektieren und Ausprobieren.
Bereit für die Liebe
Ich bin verliebt in die Liebe. Erlebt habe ich sie noch nicht. Nicht das Echte und das Laute. Das Große und Ganze. Das Unerbittliche und das Schöne. Den Wumms und das Tamtam. Das Nachwirkende und das Überwältigende.
Ich weiß, dass du gefragt hast, damit deine Augen irgendwann überrascht sein werden. Damit es irgendwann ein „Ja“ sein wird.
Liebes Schwesterherz, ich weiß, dass du gefragt hast, nicht, um zu urteilen, sondern der Liebe wegen. Nicht, um nochmal Scherben zusammenzusetzen, sondern damit deine Augen irgendwann überrascht sein werden. Damit sie irgendwann die Antwort kennen, ohne zu fragen. Damit es irgendwann ein „Ja“ sein wird. Liebes Schwesterherz, ich bin ready.
Headerfoto: Muhammad-taha Ibrahim (Kategorie-Button hinzugefügt.) Danke dafür!