Aus Angst vor der drohenden Stigmatisierung lehnte unsere Autorin Antidepressiva für sich selbst lange ab. Bis sie irgendwann nicht mehr konnte und begann, die Tabletten zu nehmen. Für sie die beste Entscheidung, denn endlich spürt sie wieder ihre Lebensfreude und konnte sich aus der Dunkelheit befreien.
Tiggerwarnung: Depressionen, sexueller Missbrauch
Im tiefsten Loch meines Lebens
Das erste Mal, als mir meine Therapeutin vorgeschlagen hat, ein Antidepressivum zu nehmen, ist fast vier Jahre her. Ich war 18 Jahre alt und im tiefsten Loch meines Lebens gefangen. Ich machte nichts außer Weinen, hin und wieder einen Löffel Zucker zu mir zu nehmen, damit mein Kreislauf nicht versagt, und mit meinem Vater telefonieren. Ich lebte damals allein und war dieser Situation wie ausgeliefert, zumindest fühlte ich mich so.
Es war Teil unseres zweiten Therapiegesprächs, dass sie mir anbot, sich mit meinem Hausarzt in Verbindung zu setzen. Mein Hausarzt war zu diesem Zeitpunkt der Vater einer meiner besten Freundinnen.
Als sie ihr Angebot ausgesprochen hatte, lehnte ich ab. Ich wollte mir damals diese Stigmatisierung nicht antun. Ich wollte nicht, dass er weiß, dass ich so „schwach“ bin, ich wollte es ohne „Hilfe“ schaffen und vor allem hatte ich Angst davor, diese Tabletten zu nehmen. Ich hatte Angst davor, was es mit mir macht. In der Retroperspektive denke ich mir oft, ich hätte es tun sollen. Die damalige Situation (der erste Lockdown) hat es mir erlaubt, mit Hilfe anderer Mittel mich auf mich selbst zu konzentrieren und mir Zeit zu geben, um zu heilen.
Ein kurzer Lichtmoment, bevor es wieder dunkel wurde
Es ging stetig bergauf, ich habe viel Sport gemacht, ich bin aufgeblüht, ich habe mich nicht mehr zurückgezogen, ich habe mich zum ersten Mal verliebt. Alles lief perfekt, klar gab es mal ein paar Ups and Downs, besonders in der Findungsphase nach dem Abitur, aber im Großen und Ganzen lief es besser, als ich es mir jemals erträumen hätte können.
Ich habe viel Sport gemacht, ich bin aufgeblüht, ich habe mich nicht mehr zurückgezogen, ich habe mich zum ersten Mal verliebt. Alles lief perfekt.
Ich weiß gar nicht, ab wann es genau begonnen hatte, dass ich langsam wieder Stück für Stück abrutschte. Ich war nicht mehr ich selbst, ich war nicht mehr die Partnerin, die ich sein wollte, die Freundin, die Kollegin, die Schwester. Ich war pausenlos angespannt, da das Leben so viel von mir verlangte. Ich bin von einer Sache in die nächste geschliddert, ohne mich auch nur ansatzweise erholt zu haben.
Ein Sommer, der mich geprägt hat
Ein Sommer, der mich geprägt hat. Der Satz beschreibt es wahrscheinlich am besten. Es sind so viele Wunden entstanden, ich wurde mehrfach verlassen von meinem Freund, ich wurde sexuell belästigt, ich wurde von meiner Familie mehrfach im Stich gelassen und ich habe den Kontakt zu meinem Vater abgebrochen. Mein Herz war gebrochen, ich war gebrochen.
Mein Herz war gebrochen, ich war gebrochen.
Den Peak hat es erreicht, als ich im September zum zweiten Mal Corona hatte, ich war allein, mit all meinen Wunden. Ich war sowieso schon einsam, aber so sehr von der Außenwelt abgeschlossen zu sein, war die Hölle für mich. Ich suchte in meinen Kontakten verzweifelt nach jemandem, den ich anrufen kann, jemandem, dem ich beschreiben kann wie leer ich mich fühle. Meinen Vater konnte und wollte ich nicht anrufen. Meine Brüder gingen nicht ran, mein On-Off-Freund machte mir ein schlechtes Gewissen, wieso ich meine negativen Gefühle bei ihm ablade. Ich war allein und ich habe es kaum ausgehalten.
Ich sagte Ja zum Antidepressivum
Zum Glück hatte ich am nächsten Tag eine Therapiesitzung, ich erzählte meiner Therapeutin von allem, meinen unsäglichen Gefühlen der Traurigkeit, Einsamkeit und Leere. Sie fragte mich zum zweiten Mal, ob ich ein Antidepressivum nehmen möchte, und ich bejahte ihre Frage sofort. Sie sprach noch am selben Tag mit meinem Hausarzt (der immer noch der Vater meiner Freundin war) und ein paar Stunden später stand er mit Anweisungen und der ersten Packung Citalopram vor meiner Haustür.
Nun saß ich da, allein in meiner Wohnung und starrte die Schachtel an.
Nun saß ich da, allein in meiner Wohnung und starrte die Schachtel an. Zum Teil verspürte ich Erleichterung, andererseits hatte ich immensen Respekt vor den Tabletten. Nach ein paar Minuten öffnete ich die Packung, drückte eine Tablette heraus, zerteilte diese und schluckte sie mit einem großen Schluck Wasser herunter.
Die ersten Nächte und Tage fühlten sich komisch an, ich fühlte mich komisch an. Die Nächte waren kurz und an den Tagen fühlte ich mich wie benommen, es war ein unangenehmes Gefühl. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, die Tabletten einfach wieder abzusetzen. Dennoch hielt mich irgendwas davon ab und ich hielt die ersten unangenehmen Tage aus, bis die Nebenwirkungen verschwanden.
Die drastische Veränderung
Mein Leben veränderte sich in den folgenden Monaten drastisch, mein On-Off-Freund trennte sich endgültig von mir, ich bin in eine neue Stadt gezogen, ich habe angefangen zu studieren, ich habe mein eigenes Leben begonnen. Ich habe neue Freund:innen gefunden, ich mache Dinge, die mir Spaß machen, ich bin abenteuerlustig, ich bin voller Lebensfreude, ich bin endlich wieder der Mensch, der ich wirklich sein will.
Ich bin voller Lebensfreude, ich bin endlich wieder der Mensch, der ich wirklich sein will.
Zu Beginn der Medikamenteneinnahme habe ich mir noch oft gedacht: „Bin ich das oder sind das die Tabletten?“ Inzwischen ist mir klar, dass das Citalopram nichts weiter macht, als den Serotonin-Abbau zu hemmen und das nichts an mir ändert. Dass ich nicht nur wegen den Tabletten der Mensch geworden bin, sondern mit den Tabletten.
Ich habe zwar jedes Mal, wenn ich mich einem neuen Menschen in meinem Umfeld anvertraue, Angst vor deren Reaktion und der damit einhergehenden Stigmatisierung, aber inzwischen gehe ich offener mit dem Thema um und spreche mit Freund:innen oder meinen Brüdern darüber. Denn mir tun die Tabletten gut und sonst zählt nichts.
Dir geht es gerade nicht besonders gut und du weißt nicht, wie du das alleine schaffen sollst? Hier sind ein paar Anlaufstellen, bei denen du Hilfe finden kannst:
Anlaufstellen: Ein Besuch beim Hausarzt/der Hausärztin deines Vertrauens kann ein guter erster Schritt sein. Unter www.therapie.de findest du freie Psychotherapieplätze in deiner Nähe. Freunde fürs Leben e.V. bietet neben ganz vielen Informationen zu Depressionen auch solche zu Hilfsangeboten. Unter 0800-1110111 erreichst du jederzeit die Telefonseelsorge, wenn du dringender Hilfe brauchst und unter 116-111 das Kinder- und Jugendtelefon.
Für Angehörige, also Familie, Partner:innen und Freund:innen, bieten die AOK und die Deutsche Depressionsliga e.V. Unterstützung und Beratung für den Umgang mit den Depressionen ihrer Liebsten.
Ihr seid nicht allein !
Headerfoto: Alp Yıldızlar. (Kategorie-Button hinzugefügt.) Danke dafür!