Ich bin nicht faul, ich bin nur noch nicht bereit – Prokrastination ist nur Warten auf einen besseren Zeitpunkt

Ich fange jetzt damit an. Okay, ich mache mir noch einen Kaffee, aber dann geht’s wirklich los. *Macht sich einen Kaffee, guckt alle Insta-Stories durch, guckt, wie der eigene Post läuft, geht pinkeln, beseitigt vom Balkon die vertrockneten Pflanzen vom letzten Jahr, hat eine Songidee, nimmt sich die Gitarre, wacht zwei Stunden später aus der Trance auf.* Oh shit, schon sechs. Und ich habe noch nichts gemacht.

Stimmt – aber nur so halb. Ich habe nicht das gemacht, was ich hätte machen sollen, dafür eine ganze Menge anderer Dinge, in die ich früher oder später eventuell auch meine Zeit investiert hätte. Wie war der Spruch noch gleich? Ich habe ein Motivationsproblem, bis ich ein Zeitproblem habe. Oder anders: Ich habe ein Priorisierungsproblem, bis ich ein Deadlineproblem habe.

Man fühlt sich einfach nur schlecht. Nicht nur, weil der zeitliche Druck steigt, sondern auch, weil Prokrastination oft mit Faulheit gleichgesetzt wird.

Prokrastination ist ein relativ neuer Begriff, zumindest kenne ich ihn nicht aus meiner Schulzeit. Wobei ich nicht sagen könnte, dass ich das Verhalten nicht auch damals schon an den Tag gelegt hätte. Heutzutage prokrastiniert allerdings gefühlt jeder mehr oder weniger öffentlich.

Nach außen hin drückt sich das als Langeweile über die zu erledigende Aufgabe aus, nach innen fühlt man sich einfach nur schlecht. Nicht nur, weil der zeitliche Druck steigt, sondern auch, weil Prokrastination oft mit Faulheit gleichgesetzt wird. Und aus eigener Erfahrung fühlt sich das Aufschieben auch genauso an – man ist faul.

„Kann mich selbst überhaupt nicht mehr leiden, denn ich schieb’ es, schon zu lang.“

Für die meisten von uns, auch für mich, ist Faulheit moralisch verwerflich, was also immer wieder dazu führt, dass auch ich mich und mein Verhalten verwerflich finde. Der Faulpelz sitzt also auf der Couch und streicht sich beschämt durchs Fell, weil er sein Leben nicht im Griff hat. Schade! Nach näherer Betrachtung allerdings glaube ich mittlerweile, dass dahinter etwas ganz anderes steckt.

Dass ich dem Thema überhaupt so viel Aufmerksamkeit geschenkt habe, hatte genau einen Grund. Es ging mir krass auf den Sack und ich wollte irgendwie ein besserer Mensch werden und vor allem mein Leben diesbezüglich etwas entstressen und entdramatisieren. Weil beim fünf Millionsten Mal hatte ich ehrlich gesagt einfach keinen Bock mehr auf diese Extremsituation.

Beim fünf Millionsten Mal hatte ich einfach keinen Bock mehr auf diese Extremsituation.

Egal, um was es ging – und da rede ich vor allem von den wichtigen Dingen, die für einen von Bedeutung sind – es war immer der pure Horror. Hausarbeiten, die im Zweifel darüber entschieden, ob ich exmatrikuliert werde, ein Konzert, das im Zweifel darüber entschied, ob ich ein weiteres spielen werde. Ich habe immer alles gerade so just in time hinbekommen, aber meist nie, ohne vorher 3 Nächte nicht mehr geschlafen zu haben, weil ich einfach keine Zeit mehr hatte.

Als Singer-Songwriter kommt man natürlich nicht um seine Emotionen herum und schreibt deswegen erstmal einen Song darüber. Eine waschechte Antiprokrastinationshymne, für den Eigengebrauch und für alle Leidensgenossinnen und -genossen, die mal wieder ihren Arsch hochkriegen müssen. In den schwierigen Momenten, wenn sich das Geschirr bis unter die Dachziegel türmt, feuer ich den Song ab. Und es hilft.

„Eins ist klar, so wies ist, kanns nicht bleiben“

Was mir aber auf eine noch ganz andere Art geholfen hat, war ein Artikel eines Professors der Sozialpsychologie mit der reißerischen Überschrift: „Faulheit gibt es nicht“. Her Lazy-Butt-Majesty war sofort brennend interessiert und es hat sich gelohnt.

Aber, wenn ich nicht faul bin, was bin ich dann? Und habe ich mich zu Unrecht mein Leben lang dafür schlecht gefühlt? Im Zweifel, ja. Der Professor geht sogar noch einen Schritt weiter. Nicht du, sondern die anderen um dich herum hätten sich dafür schlecht fühlen müssen. OK, jetzt wird’s spannend!

Bis dato pflegte ich zu sagen: Prokrastination ist einfach nur Warten auf einen passenderen Zeitpunkt. Einen besseren Moment. Um nicht zu sagen, auf den perfekten Moment. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber bei mir kommt der nur in den seltensten Fällen und noch viel seltener on time. Aber dank dem Professor gibt es dafür jetzt eine Lösung. Den perfekten Moment können wir selbst kreieren und zwar – Achtung – jederzeit.

Prokrastination ist einfach nur Warten auf einen passenderen Zeitpunkt. Einen besseren Moment.

Seines Erachtens sind die „Krankheiten“ Aufschieberitis und Drücketismus, wie es zu meinen Schulzeiten genannt wurde, Folgeerscheinungen von Überforderung. Er sagt, dass es sich niemand wirklich aussucht zu enttäuschen oder es beabsichtigt zu versagen. Hinter der Nichterfüllung einer Aufgabe stecken persönliche Gründe. Sei es die Angst, ob man gut genug ist, eine Sache, die damit überhaupt nichts zu tun hat oder die Unklarheit darüber, wie man überhaupt erst einmal anfangen soll. Es heißt ja nicht umsonst: Man wächst an seinen Aufgaben.

Hinter Prokrastination steckt also nicht Faulheit, sondern eine Barriere. Er regt an, sich dieser Schranken bewusst zu werden und ihnen Raum und Legitimation zu geben. Und aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es funktioniert.

Wenn ich nicht so hart zu mir bin, und sage, dass es okay ist, dass ich es nicht hinbekomme oder keine Lust empfinde, dann werde ich automatisch ruhiger und bin weniger gestresst. Akzeptanz der Unsicherheit nimmt ihr den Wind aus den Segeln, gibt mir etwas Motivation zurück und lässt mich die Sache einfach mal anfangen. Und dann schaue ich weiter.

„Ich will nicht mehr auf gutes Wetter warten, stell mich in den Regen, den Sturm und den Wind“

Darüber hinaus hilft es, wenn on top die Umgebung nicht so hart zu dir ist. Respektiere dich selbst und respektiere andere. Das kennen wir schon aus vielen anderen Zusammenhängen. Wenn jemand morgens nicht aufstehen kann, dann gibt es etwas, das ihn erschöpft. Und wenn jemand seine Hausarbeit nicht pünktlich abgibt, dann bekommt die Person das vielleicht nicht alleine hin. Dann sollten wir dieser Person mit Neugier („Was ist los?“), statt mit Verurteilung („Du Loser!“) begegnen, denn wahrscheinlich fehlt uns ein Teil des Zusammenhangs.

Der Professor spricht über Prokrastination hauptsächlich vor dem Hintergrund, dass das, was man nicht erledigt, eigentlich etwas ist, das man liebt und erledigen möchte. Ich würde da gern noch zwei Perspektiven aus meinen persönlichen Erfahrungen ergänzen. Ich prokrastiniere, wenn ich etwas machen soll, worauf ich schlichtweg keine Lust habe.

Abwaschen ist da das harmlose Beispiel, Hausarbeiten oder Präsentationen das größere Topic, denn ich wollte nicht in dem Beruf arbeiten, für den ich studiert habe. Prokrastination aus völliger Demotivation. Deswegen hatte ich angefangen, mich zu fragen, ob ich mein Leben nicht anders gestalten kann. In diesem Sinne kann ich nur den Mut zur Veränderung empfehlen.

Ich prokrastiniere, wenn ich etwas machen soll, worauf ich schlichtweg keine Lust habe.

Eine weitere Perspektive, die ich kenne, ist Prokrastination aus Unkonzentriertheit. Es fällt mir zu Beginn jeder Aufgabe unheimlich schwer, mich darauf zu konzentrieren, bis eine Art Sog entsteht und ich total drin und fokussiert bin. Diese Zeit zwischendrin muss ich möglichst unbeschadet überstehen, denn die Ablenkung lauert überall und ich merke es oft erst spät, wenn ich schon mittendrin bin, etwas anderes zu tun. AKA wie ist das mit den Balkonpflanzen eigentlich jetzt schon wieder passiert?

Tatsächlich hilft es mir deswegen einfach schnell, mit der Aufgabe anzufangen und nicht darüber nachzudenken, ob ich das jetzt machen soll und wie ich strukturell am besten vorgehe. Es ist nicht immer einfach, aber ich weiß, es ist egal, ob das jetzt der beste Einstieg ist, oder nicht. Es wird sich sortieren. Ein Espresso hilft beim Fokussieren, vorausgesetzt, man hat nicht schon fünfzig davon getrunken.

„Wisch den Staub von meinem Plan, Hintern hoch, Zündung an, ey“

Wenn ich mir einrede, dass ich faul bin, stresse ich mich damit nur noch mehr. Aber wenn ich hinter meinem Nichtstun die Barrieren erkenne und akzeptiere, steht mir eigentlich nichts mehr im Weg, über das ich klettern muss. Denn tatsächlich sind die meisten Barrieren wie viele Dinge – oft nur ein Hindernis im Kopf und können sich dementsprechend mit einem angepassten Mind-Set leicht wegbewegen lassen.

Es gibt also keine wirkliche Faulheit, sondern immer einen Grund für das Auschieben.

Es gibt also keine wirkliche Faulheit, sondern immer einen Grund für das Auschieben. Akzeptanz und die Erinnerung an das erleichternde Gefühl, wie es ist, wenn etwas fertig ist, helfen mir, die Sache anzupacken und zu beenden. Und falls einfach gar nichts hilft, und an manchen Tagen ist das eben so, dann erinnere ich mich gern an einen der schlauen Sätze meines Idols John Lennon und versuche mein Nichtstun einfach zu genießen: „Time you enjoyed wasting was not wasted.“

Diese Kolumne könnt ihr euch auch bei SpotifyiTunes und Deezer von Karlie höchst persönlich vorlesen lassen. Das Musikvideo zu Karlies Antiprokrastinationshymne „Gutes Wetter“ seht ihr hier:

Headerfoto: Kinga Cichewicz via Unsplash. („Wahrheit-oder-Licht“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

KARLIE APRIORI ist Singer-Songwriterin und reflektiert in ihren Texten das Menschsein. Dabei sucht sie immer nach der ehrlichsten Antwort. So eigenartig sie auch sein mag, die Wahrheit erblickt das Licht der Welt. So, wie es Hemingway empfohlen hat und so, wie es doch auch am meisten Spaß macht: „All you have to do is write one true sentence.“

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