Um den Jahreswechsel herum wird man oft gefragt, ob man denn die Feiertage in der Heimat verbringe. Ich mochte die Frage nie, aber dieses Jahr fiel mir die Antwort besonders schwer. Aufgewacht zwischen Umzugskartons, den Geruch nach etwas zu frischer Farbe noch in der Nase, setzte ich mich in einen Zug, um ein paar Tage an einem Ort zu verbringen, an dem ich zwar ein paar Menschen kannte, an dem ich aber nicht wusste, in welchem Bett ich dieses Mal schlafen würde.
Manchmal, aber besonders in solchen Momenten, fühle ich mich entwurzelt, ohne Heimat. Das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, hat nur noch kleine Momente von dem Gefühl, das man irgendwie nie und gleichzeitig immer vermisst.
Wie sich das metallkalte Pedal des Klaviers unter die Zehen schiebt. Das ist, was noch übrig ist, vom Gefühl von Zuhause.
Warme Holzplanken unter winterkühlen Füßen und das Wissen, dass die Eltern nicht zu Hause sind, weil sie halbnackte Füße auf Parkett nicht ausstehen können. Wie sich das metallkalte Pedal des Klaviers unter die Zehen schiebt. Das ist, was noch übrig ist, vom Gefühl von Zuhause.
Ich sitze in einem Zug und mache mir Gedanken. Ich fahre von dem Ort, an dem ich momentan wohne, an den Ort, an dem ich jahrelang gelebt habe, bis vor kurzem eigentlich, um dann weiterzufahren an den Ort, in dem ich aufgewachsen bin. Keinen dieser Orte würde ich intuitiv als Zuhause bezeichnen.
Familien von dort, wo meine Eltern herkommen, versuchten Heimat zu schaffen mit Kuchen und Würsten, mit Wärme und Schnaps.
Familien von dort, wo meine Eltern herkommen, versuchten Heimat zu schaffen mit Kuchen und Würsten, mit Wärme und Schnaps. Das Land, in dem ich lebe, versucht Heimat zu schaffen durch einen relativ verlässlichen Sozialstaat, ein in vielen Bereichen verlässliches Gesundheitssystem und einem großen Haufen anderer Privilegien. Aber heimelig ist das beides nicht. Jedenfalls nicht für mich.
Und dann denke ich daran, dass meine Eltern, als sie flüchteten, als sie jünger waren als ich es jetzt bin, alles, was je das Potenzial hatte, Heimat zu sein oder zu werden aufs Spiel gesetzt haben. Meine Eltern haben gespielt. Mit Transitvisa, mit Grenzbeamten, Ausweisdokumenten, mit Enttäuschungen und Mut, mit Ängsten, ihrer Zukunft.
Sie haben sich mit ihrem Glück an den Tisch gesetzt und gespielt.
Sie haben sich mit ihrem Glück an den Tisch gesetzt und gespielt. Ohne zu wissen, wie ihre Chancen stehen. Beinahe ohne zu wissen, was eigentlich der Einsatz ist. Teile des Gesetzten haben sie verloren.
Heimatlosigkeit bedeutet, in einem Land der Fremde und im anderen Land der Gegangene zu sein. Heimatlosigkeit bedeutet, dass Zwiebelkuchen und Weißwein und Barsz immer auch ein bisschen nach Verlust schmecken werden und nach Vermissen. Und trotzdem sind wir eine Familie, in Deutschland, gut angekommen, man könnte beinahe sagen eingelebt. Wir haben das Privileg, dass man uns diese Geschichte nicht ansieht. Und fast nicht mehr anhört. Den Nachnamen müssen wir immer noch absurd oft buchstabieren, aber das geht schon.
Heimatlosigkeit bedeutet, in einem Land der Fremde und im anderen Land der Gegangene zu sein.
Ich sitze in einem Zug, denke darüber nach, welches Fleckchen dieses Landes ich am ehesten als Heimat bezeichnen könnte und im Vierer neben mir platziert sich eine Gruppe Trikotträger mit Palettenbier. Ich bin mir sicher, dass sie ihre Finger stolz und akribisch genau auf den Ort legen könnten, den sie Heimat nennen. Nicht ohne sich umzusehen und jedem, der ihrer Kleinstadt zu nahe kommt, ins Gesicht zu bellen, dass sie doch einfach wieder dorthin gehen sollen, wo sie herkommen.
Ich habe nicht nachgelesen, wie Heimat definiert wird. Und für mich kann ich sie auch kaum definieren, ich habe fast das Gefühl, dass der Begriff mit jedem Tag variiert: Manchmal ist es ein Ort, manchmal ein Mensch und manchmal reicht schon eine dampfende Tasse guter Kaffee. Aber egal, wie man sie definiert: Ich bin mir ziemlich sicher, dass Heimat nicht weniger wird, wenn man sie teilt. Mit jedem Menschen, dem man das, was für einen selbst Zuhause bedeutet, schenken kann, wird das eigene Gefühl wichtiger, wertvoller. So stelle ich mir das zumindest vor.
Egal, wie man sie definiert: Ich bin mir ziemlich sicher, dass Heimat nicht weniger wird, wenn man sie teilt.
Da sitzt sie neben mir, diese Gruppe Menschen, die wohl lieber Schäferhunde wären, und reden, als würde ihnen niemand zuhören. Ich weiß nicht, wie viel Bier und wie viel Hass aus ihnen spricht, aber die bittere, verbitterte Mischung lässt mich zusammenzucken.
Ihnen hat vermutlich niemand erzählt, wie es ist, überall fremd zu sein. Oder sie haben nicht zugehört. Vielleicht können sie es sich deswegen schlicht nicht vorstellen. Auch das Prinzip Teilen scheint ihnen nie jemand erklärt zu haben. Außer beim Bier vielleicht. Das bieten sie mit großen Gesten fast allen um sich herum an.
Während ich sie ansehe, mache ich in Gedanken eine Liste von Dingen, die mir geschenkt wurden. Und ich schreibe ein großes DANKE dahinter.
Sie haben neben einer absurden Menge an Promillen auch einen Berg Privilegien angehäuft, für die sie zwar überhaupt nichts geleistet haben, von denen sie im Gegenzug aber auch nicht zu wissen scheinen. Fast blind und versessen den Blick immer nur auf sich gerichtet. Klassische Loose-Loose-Situation. Während ich sie ansehe, mache ich in Gedanken eine Liste von Dingen, die mir geschenkt wurden. Und ich schreibe ein großes DANKE dahinter.
Danke dafür, dass ich meine Heimat nicht definieren kann. Weil das in meinem Fall bedeutet, dass ich viele Optionen habe. Dass ich mich entscheiden kann, wo, wann und ob ich ankommen möchte. Und dass ich die Möglichkeit habe, das wahrzunehmen. Das ist ein Geschenk, das größer nicht sein kann. Vielleicht sollte ich versuchen herauszufinden, wie ich dieses Geschenk teilen kann.
Denn ich habe nicht nachgelesen, wie Heimat definiert wird. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nicht weniger wird, wenn man sie teilt.
Headerfoto: Stockfoto von skyNext/Shutterstock. („Wahrheit oder Licht“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!