Es ist das Fest der Liebe, man macht sich endlich mal wieder auf die Socken in die alte Heimat und sieht Familie und Bekannte wieder. Gutes Essen, gemeinsame Zeit und Harmonie. So die Legende. Wenn wir aber ehrlich sind, lassen sich die Weihnachtstage oft so zusammenfassen:
Wiedersehensfreude mündet in lang eingestaubte Konflikte, Privatsphäre war noch nie so weit entfernt wie an den Feiertagen, Onkel *hier beliebigen Namen einsetzen* hat mal wieder drei über den Durst getrunken und am Ende ist man einfach nur froh, dass diese dämliche Gans aufgehört hat, zu brennen. Okay, vielleicht war das ein wenig überdramatisch. Aber trotzdem, hier ist mein Guide für Euch: Wie überlebe ich Weihnachten?
Glühwein. Die Antwort Nummer eins ist Glühwein.
Gut, vielleicht ist diese Antwort nicht ganz ernst gemeint. Ich möchte damit auch keinesfalls sagen, dass ihr euch den Stress wegsaufen sollt, das ist auf ganz vielen Ebenen ungesund. Ich sage nur, dass viele der folgenden Situationen mit einem leichten, gediegenen Schwips vielleicht ein bisschen besser auszuhalten sind. Und so ein Heißgetränk mit Orange und Nelke lässt mich immer in Weihnachtsstimmung kommen, egal wie viel Grinch sich in mir angestaut hat. Also. Cheers. Auf Euch.
Personal Space
Ja, auch zu Familienfeiertagen hast du das Recht auf deinen persönlichen Raum. Ich jedenfalls brauche ihn an solchen Tagen manchmal mehr denn je. Dass Oma Gertrude, Tante Gisela oder Großonkel Gerd allerdings nicht verstehen, wie ernst es dir ist, wenn du sagst, dass du mal deine Ruhe brauchst, ist ein Problem. Es geht ja nicht immer, wie angenommen, nur darum, vor stressigen Situationen zu flüchten.
Manchmal ist Ruhe und Abstand etwas, das du brauchst, damit es dir weiterhin gut gehen kann. Mein Tipp: Sprich am Anfang eurer gemeinsamen Zeit mit allen Menschen, die über die Feiertage lange in deiner Nähe sein werden. Sei offen und ehrlich und erkläre ihnen, dass es nicht darum geht, dass du ihre Gesellschaft nicht schätzt. Es geht darum, das Fass der psychischen Gesundheit und Ausgeglichenheit nicht zum Überlaufen zu bringen.
Die Menschen um dich herum sind deine Familie – und bei allem Stress ist das, was am Ende übrig bleibt, meistens doch die Liebe. Und ganz ehrlich? Wer das nicht verstehen und praktizieren will, hat deinen Ausraster auch verdient.
It’s all about the Singles
Ja, manchmal hat man als Single an der langen Tafel der Vermählten, Verliebten und Vergebenen das Gefühl, ein Mensch zweiter Klasse zu sein. Kein Platz mehr am Tisch? Ist doch kein Problem, wenn du zwischen den dreijährigen Zwillingen deiner Schwester an einem kleinen Extra-Tisch sitzt, oder?
Ach, bei Kinderplanung kannst du ja gar nicht mitreden, würde es dir etwas ausmachen, schon mal mit dem Abwasch zu beginnen? Sag mal, wieso lernst du eigentlich niemanden kennen? Wann bringst du denn mal jemanden mit? Tiiiiief durchatmen. Und versuchen, nicht zu weinen. Oder zu schreien. Hier sind meine Lieblingsantworten auf diese Frage:
- „Sorry, mein Freund arbeitet bei Ärzte ohne Grenzen, ist grade weltweit im Einsatz und rettet Kinderleben – aber er sendet ganz liebe Grüße.“
- „Ich habe hier eine Strichliste (holt Zettel raus), zwei Mal habt ihr schon gefragt, drei Mal habt ihr noch. Bei fünf Strichen rufe ich *beliebigen Namen einsetzen* vom Escortservice an.“
- „Er ist doch da, hier direkt neben mir! Dass ihr ihn nicht sehen könnt, ist ja nicht mein Problem.“ (Danach fragt niemand. Je. Wieder.)
- „Ich bin ja hier und ich hoffe, ich bin euch genug. (Wenn nicht, müsst ihr an euren moralischen Wertevorstellungen mindestens genauso hart arbeiten wie ich an meinem Datinggame.)“
It’s all about the food
Ja, es ist wirklich, wirklich gut, dass du dich vegan ernährst oder sehr genau wissen willst, wo denn das Fleisch oder auch andere Produkte herkommen, die du isst. Aber nein, Oma Gertrude wird es nicht verstehen. Und wenn wir ehrlich sind, möchte sie auch nicht mit dir darüber reden. Ja, es fällt schwer. Aber ich fürchte, hier ist der einzige Tipp: Auf Durchzug schalten. Es hilft ja alles nix.
Nimm dir deine Pflanzenmilch selbst mit, hab zur Not einen Backup-Plan, falls das Weihnachtsessen für dich nicht anders zu lösen ist oder guck dir die Beilagen genauer an – ja, es nervt, aber wenn wir ehrlich sind, niemand wird hier verhungern. Wenn jemand dein Essverhalten kritisiert – verkneif dir den Kommentar. Ich bin normalerweise nicht pathologisch harmoniebedürftig unterwegs, aber ich habe in langjährigen Feldstudien herausgefunden: Es bringt nichts. Wirklich nicht. Lächeln und nicken. Und weiter Rotkohl mit Rotkohl essen.
It’s all about the politics
Okay, ja, das ist eines der Themen, das mir persönlich am meisten Bauchschmerzen bereitet. Selbst wenn man schon so weit ist, akzeptiert zu haben, die Position von einigen Menschen, denen man an den Festtagen über den Weg laufen wird, nicht mehr ändern zu können, ist hier die Devise „Kommentare überhören“ sehr, sehr schwer. Fast nicht machbar eigentlich. Und wenn ich ehrlich bin, manche Dinge möchte ich auch gar nicht überhören.
Was mich wirklich sehr anstrengt, womit ich aber die letzten Jahre gut gefahren bin: Ich formuliere klar und fundiert meine Gegenposition und bitte im Falle von Unterbrechungen darum, meine Sichtweise ebenso darlegen zu dürfen wie mein Gegenüber. Dann zeige ich auf, wie entgegengesetzt unsere Positionen sind und bitte darum, ob des Friedens der Festtage auf eine weitere Diskussion zu verzichten.
Das lässt mich nicht bereuen, nichts gesagt zu haben, erlaubt mir aber, wenn doch ein Diskurs losbricht, einfach aufzustehen und zu gehen, ohne mir vorwerfen lassen zu müssen, ignorant zu sein. Klingt kompliziert und anstrengend, ist aber, glaube ich, das, was einer friedlichen Lösung an nächsten kommt.
Rien ne va plus
Was, wenn trotz aller Bedachtheit, Nachsicht, Glühwein, Zuckerschock und Diskursvermeidung nichts mehr geht? Auch wenn ich euch das nicht wünsche, mag ich die Antwort wirklich gern: Schnappt euch Omas Eierlikör, schließt euch exakt 1 Stundde und 45 Minuten ein und schaut das hier an. Danach geht’s wieder. Versprochen. Frohe Weihnachten, ihr Racker! Ihr könnt das schaffen.
Headerfoto: Julia Szymik.