Gelegenheit macht Liebe oder die Frage nach dem Timing von Beziehungen

Ich habe ein Lieblingsgedicht. Es ist von Erich Kästner und heißt sachliche Romanze (1929). Darin geht es um ein Paar, das sich seit acht Jahren kennt und liebt – bis beide dann erschrocken feststellen, dass sie genau das nicht mehr tun: sich lieben.

»Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut)
Kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.«

Jedes Mal, wenn ich diese Zeilen lese, frage ich mich, was den beiden wohl passiert sein mag, dass sie nicht bemerkt haben, als sie ihre Liebe zueinander verloren – wie andere Menschen einen Stock oder Hut. Waren sie nur einen kleinen Moment unachtsam? Waren sie zu lange zusammen? Und was ist danach passiert? Sind sie danach wieder glücklich geworden ­– womöglich mit neuen Partnern?

All diese Fragen haben, auch wenn sie verschiedene Enden antizipieren, einen gemeinsamen Faktor, der eine entscheidende Rolle in jeder der möglichen Optionen spielt: die Zeit.

Wie wichtig ist die Zeit eigentlich für eine Beziehung, oder vielmehr: Wie wichtig ist das Timing dafür, dass es zu einer Beziehung kommt ?

Wie wichtig ist die Zeit eigentlich für eine Beziehung, oder vielmehr: Wie wichtig ist das Timing dafür, dass es zu einer Beziehung kommt oder dass eine solche hält? Einige Leute lassen sich aus zeitlichen Gründen gar nicht erst auf Beziehungen ein. Sie wollen ihr Leben (noch) nicht von einer Person abhängig machen, haben vielleicht gerade eine schwierige Beziehung hinter sich und wollen: mehr Zeit.

Andere Leute beschwören, dass Zeit keine Rolle spiele, wenn man sich nur wirklich liebt. Falsche Momente im Leben gebe es nicht, man müsse nur auf sein Herz hören, die Liebe fände jeden Weg.

Beides sind Argumentationen, die ich nicht zu 100 Prozent teilen kann. Ich glaube durchaus an die Liebe und auch an den richtigen (respektive falschen) Moment für etwas, aber ich weiß eben auch, was Bushido einst so prägnant und mit beinahe philosophischer Weitsicht auf den Punkt gebracht hat: »Die Zeiten ändern Dich«. Manchmal braucht die Zeit dafür nur einen Augenblick, in anderen Fällen länger – manchmal braucht sie ein ganzes Menschenleben.

Spielt das Timing in Beziehungen demnach immer dann eine Rolle, wenn die Liebe nicht mehr weiter weiß?

Spielt das Timing in Beziehungen demnach immer dann eine Rolle, wenn die Liebe nicht mehr weiter weiß? Oder kommt die Liebe nicht weiter, wenn das Timing einen Strich durch ihre – unsere – Rechnung macht? Wenn man einfach zu spät ist, zu langsam, nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort? »Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.«

Eine Frau, die sich zunächst um ihre Karriere kümmern möchte und keine Familienplanung in Betracht zieht, wird möglicherweise nicht mit ihrem Partner zusammenbleiben, wenn der Kinder haben will – auch wenn sie sich lieben. Der Mann in dieser Konstellation wird genauso erwägen, sich zu trennen, wenn er mit der Familiengründung vielleicht nicht länger warten möchte.

Ein Junge verliebt sich in einen anderen Jungen, der schon seit Jahren eine Freundin hat – aber wäre diese Freundin nicht oder hätte er den Jungen früher kennengelernt, würde er diesen vielleicht auch lieben.

Ein Paar beginnt eine Beziehung, bevor eine von beiden beruflich für mehrere Jahre ins Ausland muss und die andere kann nicht mitkommen.

Eine Frau liebt ihren Mann, den sie schon in der Schule kennengelernt hat, aber nach zehn Jahren Ehe stellt sie fest, dass sie sich ausleben möchte, als Single, ehe es zu spät ist und sie nie erfahren hat, was und wen es da draußen sonst noch so gibt.

Falsches Timing – vielleicht auch nur durch Zufall – macht die Liebe, die man empfindet, nicht kleiner.

All das sind Fälle von Lieben und Leben, die es jeden Tag gibt. »Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer wieder neu. Und wem sie just passieret, dem bricht das Herz entzwei.« (Heinrich Heine: Ein Jüngling liebt ein Mädchen, 1822) Und die Liebe hat hier oft keine Chance: Weil die Zeit nicht die richtige ist.

Falsches Timing – vielleicht auch nur durch Zufall – macht die Liebe, die man empfindet, nicht kleiner, aber es lässt einen manchmal schweren Herzens erkennen, dass die Liebe eben nicht immer alles erträgt, nicht alles glaubt – sie hofft vielleicht alles, aber sie hält nicht immer allem Stand. (Aus dem Hohelied der Liebe, 1. Korintherbrief, Kapitel 13)

Doch, wenn ich es mir recht überlege, finde ich das gar nicht so schlimm. Liebe geht manchmal zu Ende, wird manchmal zu etwas anderem und manchmal existiert sie einfach zum falschen Zeitpunkt am falschen Platz.

Viel trauriger, als sich das alles einzugestehen, wäre es doch, zu glauben, dass man den/die  Ex-Partner*in nicht wirklich geliebt haben soll (oder vice versa), denn wenn es so wäre, dann wäre die Beziehung ja nicht geendet oder man wäre mit dem*der Auserwählten zusammengekommen oder er*sie wäre für einen dageblieben.

Nicht jede Liebe ist für die Ewigkeit gemacht – aber es gibt sie, immer wieder.

Nicht jede Liebe ist für die Ewigkeit gemacht – da ist er wieder, der Endgegner Zeit – aber es gibt sie, immer wieder.

Ich liebe – zum zweiten Mal in meinem Leben. Und ich hoffe sehr, dass die Zeit dieser Liebe nichts anhaben wird. Denn meine erste ist an ihr zerbrochen. Und das nicht etwa, weil sie nicht echt gewesen wäre, nicht genug ertragen oder nicht alles geglaubt hätte. Sondern weil es der falsche Moment war für ein »für immer«. Sie hat der Zeit nicht standgehalten. Dennoch war sie aufrichtig, voll empfunden, wirklich und zu einem anderen Zeitpunkt in unser beider Leben wäre sie vielleicht nicht geendet.

Ich will mir nicht einreden müssen, dass er nicht der Richtige war, dass es nur einen Richtigen gibt. Und erst, wenn man den gefunden hat, dann – und nur dann – ist es auch wirklich die »wahre Liebe«. Es war richtig, solange es dauerte. Und jetzt ist jemand anderes richtig für mich, nicht weniger oder mehr, sondern einfach auf eine andere Art und Weise, für eine andere Zeit. Vielleicht sogar für immer. Das wäre schön.

Ich glaube, es gibt immer den*die Richtige*n zur richtigen Zeit. Manchmal ist die gemeinsame Zeit kurz, manchmal dauert sie länger.

Ich glaube, es gibt immer den*die Richtige*n zur richtigen Zeit. Manchmal ist die gemeinsame Zeit kurz – nur ein Moment –, manchmal dauert sie länger, manchmal ist es für die Ewigkeit. Das kann man vorher nicht wissen, denn wer weiß schon, was die Zeit bringt? Wichtig ist, dass man die Zeit nutzt, die man gemeinsam hat, wenn man sie hat. Wenn man sie nicht hat, dann kommt der richtige Moment vielleicht noch.

In anderen Fällen heilt die Zeit bekanntlich die meisten Wunden. Und dann kommt jemand neues – mit der Zeit.

Headerfoto: Lindsey Weber via Unsplash. („Gedankenspiel“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

LINDA hat an Heiligabend Geburtstag, kommt aus dem Rheinland, ist aber im Herzen Hamburgerin. Sie hat Literatur in Bonn und Hamburg studiert und mit einer Arbeit über die Liebe abgeschlossen. Für die Liebe ist sie auch nach Berlin gezogen. Bei im gegenteil liest sie deswegen auch Liebesbriefe und sorgt dafür, dass diese hübsch gemacht sind für dieses Internetz.

1 Comment

  • Eigentlich ist das mit dem Verlieben ja oft mit so vielen Zufällen verbunden. Da ist das Timing wirklich entscheidend, damit man auch lange glücklich ist und später nicht der Scheidungsanwalt droht. Trotzdem finde ich, dass neben dem Timing auch ruhig ein wenig an so einer Beziehung gearbeitet werden kann 😉

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.