Ich lebe in Berlin und bin auch hier geboren. Damit gehöre ich zu den seltenen Exemplaren mehr oder weniger exotischer Zeitgenossinnen, die den Hype weder verstehen, noch daran teilhaben wollten. Exzessive Partynächte gab es zwar auch, aber die endeten dann eben schon mit 27 und nicht erst mit 42.
Überhaupt war mein Lebensweg zwar nie geradeaus, aber der meiner Schulfreund:innen von einst sehr wohl. Schule, Abi, Ausbildung, Job, Kinder und Heirat. Eventueller Umzug ins Brandenburger Umland nicht ausgeschlossen. Ich hingegen legte mir mit zwanzig einen Pixie Cut zu, rebellierte gegen meine guten Noten und die Erwartungen meiner Familie und wurde mit 21 Mutter. Alleinerziehende, versteht sich.
Denn während andere davon träumten, schnell ins gemachte Nest zu schlüpfen, hing ich online den großen Fragen dieser Welt nach und philosophierte mich durch sämtliche Köpfe und Betten. Ich verliebte mich in haufenweise Musiker und hoffte inständig, mein Durst nach neuen Erfahrungen würde erlöschen.
Vom geplatzten Traum des Familienlebens im Altbau in Prenzlberg
Die stinknormale Ostpocke (so nannte meine Mutter uns ehemalige DDR-Bürger:innen immer), wollte ja auch heiraten, eine schöne Altbauwohnung im Prenzlberg und drei Kinder großziehen, aber auf der anderen Seite schlug mein Puls sowieso von jeher 90 Schläge die Minute, was sollte ich also anderes tun?
Ich lernte Menschen kennen, feierte, ruhte, sog die Stadt auf wie ein Schwamm und rutschte von einem Drama ins nächste. Wenn ich mich heute mit Freundinnen unterhalte, alle aus anderen Städten, bis auf wenige Ausnahmen, schauen sie mit trostlosen Blicken in ihren Kaffee, stammeln von der Ungerechtigkeit, in Berlin niemals die große Liebe zu finden und streben doch niemals eine Karriere bei der Bank an.
Und über allem schwebt der Wunsch, mit Mitte 30 endlich zu erfahren wohin die Reise gehen wird und vor allem: mit wem.
Wir tragen stattdessen stolz unsere Hipster-High-Waist und zupfen unseren auf Schnur symmetrischen Pony zurecht. Wir sind unsere eigene Karikatur geworden – also das, was die Stadt angeblich erwartet. In einem Blog über Berlin und seine Szenemultiplikatoren sieht man Bilder von uns. Stilecht mit breitem Grinsen im Gesicht oder melancholisch schwer, weil Dienstag ist oder Wäschetag oder gerade nicht kinderfrei.
Und über allem schwebt der Wunsch, mit Mitte 30 endlich zu erfahren, wohin die Reise gehen wird und vor allem: mit wem. Natürlich redete auch ich mir ein, ich sei nicht ambivalent und verhielte mich auch nicht so. Ich bin jetzt zweifache Mama und sehne mich nach Alltag, nach einer Schulter zum Anlehnen und einem Gefährten für das restliche Stück Weg. Tatsächlich klicke ich doch aber noch immer mit großer Vorliebe auf die Drummer, die Philosophen, die Melancholiker und Herzensbrecher.
Mein Berlin-Wunder unter deinen Achseln.
Ich habe mir vor Weihnachten einen Mann gesucht, der die ganze Schwere dieser Welt auf seiner Stirn trug. Drei Ohrringe baumelten an seinem linken Ohr und harmonierten damit hervorragend zu meinem Nasenring. Wir hielten uns intensive fünf Dates abwechselnd in seinem Bett oder meinem auf und er säuselte mir in Hebräisch die schönsten Komplimente ins Ohr. Oh ja Fräulein, du bist sowas von (was wir dafür halten) Berlin!
Während er sich aber immer bewusster wurde, dass das wilde Musikerleben nach der Pandemie wieder weitergehen müsste, grub ich meine Nase tiefer in seine Achselhöhle und träumte von dem Berlin-Wunder. Meinem eigenen natürlich.
Ich träumte von dem Berlin-Wunder. Der Idee, auf erstaunliche Weise hier jetzt endlich den Menschen gefunden zu haben, der uns alle Lügen straft. Der sich anfühlt wie Berlin 1999 und nicht 2021.
Der Idee, auf erstaunliche Weise hier jetzt endlich den Menschen gefunden zu haben, der uns alle Lügen straft. Der sich anfühlt wie Berlin 1999 und nicht 2021. Der irgendwann einmal in seinem Kinderzimmer saß und von mir geträumt haben muss, seiner zukünftigen großen Liebe, so wie ich von ihm träumte, bevor mir die Hauptstadt erklärte, dass Träumereien hier keinen Patz hätten.
Ich wuschelte durch sein Haar, er sagte mir, wie schön ich sei, wir saßen in unseren Jogginghosen auf seinem Sofa und hörten tonnenschwere Musik und alles, was ich war, war für den Moment sehr glücklich. Mehr kann man von dieser Stadt wohl nicht mehr erwarten.
Headerfoto: Toa Heftiba via Unsplash. („Gedankenspiel“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!