Fast schon beinahe – vom Leben im Vakuum

Es war Frühling und er konnte es fast riechen. Die Luft so klar und vom Erwachen durchdrungen, dass er beinahe so etwas wie Glück verspürte. Den ganzen Winter über war er traurig gewesen. Es war nicht diese obligatorische Traurigkeit, die viele Menschen im Winter verspüren, sondern eine Traurigkeit, die die Umstände tatsächlich erforderten. Völlig unabhängig vom Niederschlag oder vom Sonnenstand oder von der Vegetation.

Im letzten Frühjahr, ziemlich genau zwölf Monate zuvor, war sie noch bei ihm gewesen, lachend, schön, talentiert, liebend und makellos von innen und außen. Bei ihm, neben ihm, vor ihm und überall sonst, wo sie sich brauchten; er sie und sie ihn.

Sie waren einfach nur bei sich. Er bei ihr und sie bei ihm.

Ab und an gingen sie unter den Kirschblüten spazieren, wie Paare das eben so tun, wenn sie sich mögen, und saßen auch mal auf einer Bank am See, sein Kopf auf ihrem Schoß, beide die Augen zum Schutz vor der tief stehenden Sonne zugekniffen. Sie waren einfach nur bei sich. Er bei ihr und sie bei ihm. Es hing dieser Duft von Blütenknospen und vorsichtigem Blinzeln der Natur in der Atmosphäre.

Im Sommer war bereits alles anders. Während die anderen zum Baden fuhren und sich in die Sonne legten, lag sie auch – aber nicht am See. Er hielt ihre Hand, wie auch in den vergangenen Jahreszeiten, aber jetzt hielt er sie fester und bedeutsamer. Sie war immer noch schön, aber nicht mehr lachend.

Die Momente, in denen sie bei ihm war, wurden rar. Meist war er bei ihr. Sie dachten oft an den Frühling zurück, der so gut roch und so rosarot und himmelblau aussah und so melodiös klang.

Im Herbst war sie kaum noch sie selbst, ein Schatten ihrer vormaligen Schönheit. Sie dachten beide an nichts mehr zurück, in der Hoffnung, dass sie so auch vergessen könnten, nach vorne zu schauen. Nun war nicht mehr sie bei ihm, sondern er bei ihr. Überall dort, wo sie ihn brauchte.

Nun war nicht mehr sie bei ihm, sondern er bei ihr.

Dieses Überall beschränkte sich bald auf eine Fläche von zwei Quadratmetern und das Brauchen auf seine pure Anwesenheit. Er hatte aufgehört, seine Sinne zu benutzen und auch sehnsüchtig oder erwartungsvoll zu sein. Sie tat das schon längst nicht mehr.

Im Winter schließlich, kurz bevor der erste Schnee fiel, hatte ihr Körper damit aufgehört, sein zu wollen. Kurz vor dem neuen Jahr war ihr Äußeres, ihre physikalische Hülle, bereits zu Staub verfallen, genau wie sein Inneres. Nun war sie weder bei ihm noch er bei ihr.

Zumindest war ihr Körper nicht mehr da, was für ihn nun mal ausschlaggebendes Kriterium für seine Traurigkeit war. Es war nicht so, dass er dort sein wollte, wo sie war (wo ihr Körper war), es war eher so, dass er nirgendwo mehr sein wollte. Und wenn er irgendwo war, dann war es ihm egal, wo. Oder mit wem.

Es war, als würde ihn eine bleierne Leere wie ein Vakuum füllen.

Es war, als würde ihn eine bleierne Leere wie ein Vakuum füllen und sein Äußeres langsam nach innen kehren. Wenn man ihn so ansah, war es mühsam, ein Gesicht zu erkennen; kaum eine Nase, die roch, oder Augen, die sich umsahen, oder Ohren, die hörten, oder ein Mund, der sprach.

Kontur- und kraftlos tat er die Dinge, die getan werden mussten. Er stand morgens auf, als würde ihn ein Marionettenspieler an dünnen Fäden nach oben ziehen, er ging an eben jenen Fäden zur Arbeit, er ging ihretwegen wieder nach Hause. Am feinen Nylon aß er, verrichtete sein Geschäft, legte sich ins Bett.

Einzig die Nächte, in denen er traum- und erinnerungslos einfach nur die Müdigkeit wegschließen konnte, erschwerten ihm sein Dasein nicht. In den anderen Nächten, in denen er sie und Staub und haarlose Häupter und weiß, weiß, weiß antraf, sehnte er sich danach, nicht mehr schlafen zu müssen, nie mehr.

Er versuchte nicht einmal mehr, bei sich zu sein.

Er war nicht einsam. Einsam zu sein würde heißen, dass man zumindest sich selbst noch bei sich hat. Er versuchte nicht einmal mehr, bei sich zu sein. Das ging viele Wochen so, während des gewaltigen Schneefalls, den andere zum Skifahren nutzten, während andere mit ihren Schlittschuhen in die Eishallen gingen, während für andere die Wohnzimmer zu wärmenden Refugien wurden. Während andere ein bisschen traurig waren, weil ihnen die Jahreszeit ein wenig zu dunkel war.

Dann war da dieser Tag im Frühling, es muss wohl ein Donnerstag Ende April gewesen sein, als er vor die Tür trat und dieser Geruch auf seine zurückgebildete Nase traf. Beinahe fühlte er sich schuldig, dass er diese – ihre – Schwere für einen kurzen Moment leicht nahm. Beinahe.

Vielleicht war es das Gefühl des Auflebens, das viele Menschen im Frühling verspüren, weil der Himmel blau ist und durch die kräftiger werdenden Sonnenstrahlen im Körper chemische Prozesse ablaufen, sodass einer guten Stimmung zuträgliche Hormone ausgeschüttet werden.

Vielleicht lag dieses Beinahe-Glück aber auch daran, dass das Vakuum zufällig zur gleichen Zeit, als auch der Stand der Sonne weiter nach oben wanderte, ein wenig Luft gezogen hatte.

Letzteres wäre sehr zu hoffen.

Headerfoto: Junger Mann im Wasser via Shutterstock.com. („Gedankenspiel“-Button hinzugefügt.) Danke dafür.

Franziska schreibt. Für ihr Leben gern, um ihr Leben und um ihr Leben herum. Neben ihrem Job als Texterin bloggt sie auf www.frl-wunderbaar.de und bietet dort Heimat für all die Worte und Gedanken, die sich danach sehnen, liebevoll festgehalten zu werden. Meistens geht’s dabei um Menschen, Nachhaltigkeit, Reisen und Liebe sowieso.

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