Extravertierte Freund*innen: Für die Lauten in meinem Leben

Mir ist ein Fehler im System meiner Kolumne aufgefallen. Ich schreibe Texte übers Introvertiertsein, um Verständnis zu schaffen, zu entstigmatisieren und ein Gespräch aufzumachen – und manchmal passiert das krasse Gegenteil.

Es scheint im ersten Moment logisch, dass aus jeder These eine Gegenthese gebildet werden kann. Wenn ich schreibe, dass introvertierte Menschen sanft, überlegt und tiefgründig sind, wollen manche daraus lesen, dass extravertierte Menschen grob, unreflektiert und oberflächlich sind. Dann wird geschimpft: „Genau! Es kann ja nicht jeder so ein Brüllaffe sein, der sich 24/7 selbst feiert und nie nachdenkt, bevor er etwas sagt! Recht hast Du! Danke, dass Du es sagst!“

Nur, dass ich das so nie gesagt habe. Habe ich es so gemeint – vielleicht ein bisschen? Nein. Ich bin sogar überzeugt, dass es überhaupt nicht so ist.

Wer sich ständig rücksichtslos, unüberlegt und selbstbezogen verhält, ist wahrscheinlich einfach ein Idiot.

Es ist vielmehr so: Wer sich ständig rücksichtslos, unüberlegt und selbstbezogen verhält, ist wahrscheinlich einfach ein Idiot. Und Idioten findet man in jeder dieser Schubladen, die wir uns ausgedacht haben, um die Welt zu verstehen. Das Verständnis wird nicht mehr, wenn wir Schublade gegen Schublade denken.

Introvertierte mögen es manchmal schwer haben, weil Extraversion nicht nur eine Eigenschaft von anderen, sondern auch ein gesellschaftlicher Maßstab ist. Aber dafür können wir nicht einfach nur die Anderen verantwortlich machen. Es sind ohnehin nicht die Anderen, ich denke nicht in wir und die. Weil die auch meine Familie sind, meine Kollegen, und – meine Freunde.

Freund*innen sucht man sich aus, weil sie so sind, wie sie sind.

Das Schöne ist: Freund*innen sucht man sich aus. Ich habe mich nicht für meine extravertierten Freund*innen entschieden, obwohl sie so anders sind als ich, sondern vielleicht auch, weil sie es sind. Weil ich ihre Art großartig finde.

Ich liebe ihre Spontaneität, ihr einnehmendes Auftreten, ihren unverschämten Übermut, ihre Schlagfertigkeit, wie schnell sie denken und dabei gleichzeitig reden können und wie sehr sie mich zum Lachen bringen, weil sie meistens lieber unverblümt als vorsichtig sind. Ich feiere die Momente, in denen sie ohne zu zögern etwas tun, das ich komplett zerdenken und dann bleiben lassen würde.

Ich genieße die Unternehmungen, für die ich mich alleine niemals entschieden hätte, die aber doch richtig gut werden, weil sie dabei sind. Die leiseren Gespräche, an die man erst später rankommt, aber auf die es sich zu warten lohnt. Wie überraschend es sich dann anfühlt, jemandem so nahe zu sein, der sich in diesem einen Punkt so stark unterscheidet – und in allen anderen doch gar nicht.

Und neben allem, was sie ganz individuell ausmacht, liebe ich meine extravertierten Freund*innen für das, was sie mit mir machen.

Und neben allem, was sie ganz individuell ausmacht, liebe ich meine extravertierten Freund*innen für das, was sie mit mir machen. Es gibt mit ihnen so viel zu erleben, das ich nie verpassen wollte, nur, um weiter in mich gekehrt sein zu können. Ich zelebriere meine Zeit alleine und erinnere mich wohl an ein gutes Buch oder eine Soloreise, aber niemals so sehr, wie an das, was mit anderen Menschen passiert.

Und das muss nicht immer ein Spaziergang im Park sein, auch wenn ich das schön finde. Die Lauten in meinem Leben ziehen mich nicht nur raus, um zwischendurch mal Krawall mitzumachen, sie nehmen mir auch die Angst davor. Mit ihnen im Rücken gehe ich gerne auf Straßenfeste, überlebe nervige Networking-Events, traue mich im Stadtverkehr wieder aufs Fahrrad und singe in überfüllten Bars schon fast so laut, dass man es hören kann.

Freundschaften zwischen introvertierten und extravertierten Menschen funktionieren, trotz Unterschiede – oder genau deswegen

Viele von ihnen haben sich früher für mich entschieden als ich mich für sie. Obwohl ich so anders bin – oder weil. Sie sind mit ihrem Charme und Elan einfach in meine introvert comfort zone gebulldozed, als sei es das normalste auf der Welt. Aber auch ein bisschen so, als wüssten sie es. Und ganz egal, wie awkward das jedes Mal war – ich bin froh, dass ich nicht weggelaufen bin.

Headerfoto: Zwei Frauen mit Wassermelone (Stockfoto) via Jacob Lund/Shutterstock. („Wahrheit oder Licht“-Button hinzugefügt.) Danke dafür.

Sabine von A HUNGRY MIND stolpert oft über ihre eigenen Füße und noch öfter über soziale Konventionen. Manchmal fragt sie sich, ob es klug war, sich in ihre Wahlheimat Hamburg zu verlieben. Das Schietwetter hält andererseits super als Grund fürs Alleinsein her - wer will schon ständig erklären, was „introvertiert“ heißt? Tief drinnen glaubt Sabine trotz allem ans Gute: Lasst uns den Planeten retten und jeden Extremismus beenden! Und wenn das nicht geht, dann wenigstens bei uns selbst anfangen. 

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