Egofick

Ein Tag nach meinem Geburtstag, draußen ist es Frühling. Ich treffe mich mit meinem besten Freund in unserer Schanzenstammkneipe zum Anstoßen. Er ist einer der wenigen Menschen, die mich ausnahmslos immer zum Lachen bringen. Wenn ich ihn sehe, geht es mir immer und sofort besser. Schon seit vielen Jahren. Wir vertrauen uns blind. Sind Familie füreinander. Auch dieses Mal funktioniert unser Gefühlsgeschwisterzauber. Nach einer halben Stunde liege ich schon zweimal unterm Tisch vor lachen.

Neben ihm werde ich dich heute auch noch sehen. Das erste Mal seit ein paar Wochen. Ich habe extra ein Zimmer in dem Hotel gebucht, in dem wir uns sonst immer trafen. Nach langer Zeit warst du die erste feste Affäre, auf die ich mich einlassen wollte. Wir treffen uns seit vier Monaten. Kennengelernt haben wir uns auf einem Konzert. Eine gemeinsame Freundin hat uns einander vorgestellt. Du bist auch Musiker. Ich habe dich gesehen und wusste sofort, dass wir nicht umeinander herumkommen. Du bist Anfang zwanzig und ich die zweite Frau, mit der du schläfst. Du weißt noch nicht so genau, wie das mit dem Sex geht. Später erzählst du mir, dass du das Gefühl nicht kennst, begehrt zu werden. Das jemand wirklich Lust auf dich hat. Dich und wer du bist. Und auf das, was du im Bett tust. Du kanntest nur das Gefühl, immer den ersten Schritt tun zu müssen – und dich dabei irgendwie aufdringlich zu fühlen. Dich für deine Lust zu schämen. Für das, was beim Sex bisher zwischen dir und deiner Exfreundin passierte, warst du allein verantwortlich. Und das bei aller Unerfahrenheit. Aber so war eben eure Rollenaufteilung. Mann umwirbt Frau. Du hast es mit der Zeit dann einfach gelassen.

Für dich ist vieles an mir besonders. Die Umstände, unter denen wir uns treffen, meine Offenheit, die Art, wie ich Sex genieße. Ohne Druck, ohne Peinlichkeiten. Ich zeige, wenn es mir gefällt. Und ich zeige, wie es mir gefällt. Bei mir darfst du sein. Dich und mich kennenlernen. Manchmal überfordere ich dich auch ein bisschen. Aber auch das magst du und findest es aufregend.

Was ich von dir lerne ist, sich wieder mit jeder Pore auf jemanden zu besinnen. Runterzufahren. Nicht zu schlingen und sofort übereinander herzufallen, sondern den anderen zu erforschen, sich Zeit zu nehmen. Stundenlang. Nächtelang. Wir haben Milimetersex. Wunderschön. Nicht oft habe ich das mit einem anderen erlebt. So zart angefasst, erkundet, gehört, gerochen, geschmeckt zu werden. Wir saugen uns förmlich auf. Streicheln uns an jeder Stelle unseres Körpers, sind wachsam für jede Reaktion. Jedes Atmen, jedes Seufzen, jedes gehauchte Wort ist ein Manifest. Die Orgasmen, die du mir schenkst, kommen langsam aber heftig. Vorsichtig hast du die Stellen gesucht und gefunden, die mir die größte Lust bereiten. Voller Staunen siehst du mir dabei zu, wie ich mich deinen kreisenden Berührungen hingebe, die Augen geschlossen, den Mund halb geöffnet. Wie sich mein Becken in perfekter Harmonie zu deiner Hand auf und ab bewegt. Wie ich mich langsam in meiner Lust verliere, dennoch Halt in deinen Armen suche. Mich an dich kralle und jede Lustwelle so intensiv spüre wie selten. Mit jeder Welle geht mein Atem schneller. Ich denke nicht, alles treibt mich zum Höhepunkt. Du treibst mich zum Höhepunkt.

Im Gegensatz zu mir kommen deine Orgasmen schnell und intensiv. Zu aufregend und manchmal auch überfordernd ist diese neue Welt für dich. Du bist sehr konservativ erzogen worden, logisch also, dass du einen ganz anderen Zugang zu Sex hast als ich. So kannst du beispielsweise das Wort Schwanz nicht leiden. Ihn „Ding“ zu nennen, sei aber in Ordnung, sagst du mir. Und wenn du mich von hinten nimmst, kostet dich ein kleiner Klaps auf den Hintern wirklich große Überwindung. Und das, obwohl es genau deiner Phantasie entsprungen ist. Du hast dich halt vorher nicht getraut. Deiner Lust nicht getraut. Aber ich mag unsere Unterschiede. Sie bereichern uns. Auch wenn klar ist, dass wir niemals ein Paar geworden wären.

Du kommst in die Bar, um mich abzuholen. Mein bester Freund hat bereits das Feld geräumt. Auch der Barkeeper versteht spätestens jetzt, warum ich auf seine Flirtversuche nicht angesprungen bin. Bevor wir gehen, nehmen du und ich noch einen Drink und erzählen uns von den letzten Wochen. Ich bin entspannt und ich glaube du auch. Du wirkst zufrieden, das macht mir Lust auf dich. Es war gut, dass wir uns etwas länger nicht gesehen haben. Wir waren fast zu eingespielt, der erste Zauber verflogen. Für mich war schon das Ende in Sicht. Umso schöner, dass es gerade so ist, wie es ist. Und wer weiß, was für neue Feuer wir heute entfachen.

Wir beobachten lächelnd die anderen, während wir zu eng nebeneinander in der Bahn zum Hotel sitzen. Dort angekommen betreten wir das kleine aber hübsche Zimmer. Das Doppelbett mit den weißen, perfekten Laken wartet schon darauf, von uns durchwühlt zu werden. Ich freue mich darauf, mit dir zu schlafen, dich zu spüren. Unsere nackten Körper ineinander versunken. Ich öffne den Wein, den ich mitgebracht habe, und fülle zwei Gläser. Wir stoßen an. „Ich gehe noch mal kurz ins Bad“, sage ich lächelnd und verschwinde hinter der Milchglastür. Ich gehe aufs Klo und ziehe die Strumpfhose aus. Wir wissen alle, wie nervig die Dinger sein können. Ich verlasse das Bad, schließe die Tür und trete auf dich zu. Ich schau dich an, streiche dir über dein Gesicht, nehme es in beide Hände. Ich küsse dich sanft. Du sagst: „Wir müssen reden.“

Eine Stunde später bin ich immer noch fassungslos. Mein bester Freund und ich sitzen vor unserem zweiten Damengedeck: Alster und Sambuca. Urige Gestalten leisten uns in St. Georg Gesellschaft. Nach meinem Anruf hat er sich tatsächlich mitten in der Nacht aufgerafft, ist durch die ganze Stadt gefahren, um den Abend zu retten. Aber so sind wir. Dasselbe würde ich immer und sofort für ihn tun.

Ich bin im Schimpfmodus. Im Normalfall freue ich mich für meine Affären, wenn sie sich in jemanden verlieben. Das hat immer Vorrang. Im Normalfall erfahre ich davon aber auch nicht kurz vor dem Vorspiel. Was soll der Scheiß? Nach so viel Achtsamkeit füreinander ist das Ende dann erschreckend demütigend gelaufen. Er wollte das mit seiner Unerfahrenheit entschuldigen. Aber das lasse ich nicht gelten. Jahrelang hat er sich für seine Lust geschämt. Sie nicht offen gezeigt aus Angst vor Zurückweisung. Und jetzt hat er mich zurückgewiesen und ich mich geschämt. Wieso erzählt er mir davon erst im Hotelzimmer? Eine nette Nachricht hätte genügt. Und wenn er es schon persönlich machen möchte, dann doch bitte spätestens in der Bar. Der Barkeeper sah wirklich nett aus. Lieb? Süß allemal!

Gott sei Dank hatte ich vorhin nur meine Strumpfhose ausgezogen und bin nicht nackt aus dem Bad gekommen. Oder in einem Dominaoutfit. Oder einem brasilianischen Karnevalskostüm mit riesigem Kopfschmuck, der kaum durch die Tür passt. Mein bester Freund beginnt mich aufzuziehen und ich muss grinsen.

Ein neuer Sambuca steht vor uns auf der Theke. Wir erheben die Gläser und er fragt: „Was ist nur mit den Leuten los?!“ Ein Insider. Wir gucken uns resigniert an, halten kurz inne, dann prusten wir laut los und liegen uns lachend in den Armen. Ein Hoch auf die Freundschaft!

Headerfoto: Beryl Chan via Creative Commons Lizenz 2.0! („Sexy Times“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

ANNA ZIMT ist 33 Jahre alt, isst am liebsten salzige Pommes mit Mayo und fühlt sich sexuell befreiter denn je. Sie lebt in Hamburg, liebt erste Dates und Großstadtabenteuer. Einst Streetworkerin in Berlin, hat sie gerade zwei Bücher veröffentlicht: "In manchen Nächten hab ich einen anderen" (könnt ihr hier kaufen) und "Leck mich!" (könnt ihr hier kaufen). Frau Zimt ist in ganz unterschiedlichen Welten unterwegs. Ihr Zuhause hat sie aber schon vor vielen Jahren gefunden.

2 Comments

  • das machen beste freunde eben so. sie sind da wenn man sie braucht und wissen wann es zeit ist zu gehen.
    kein grund also zu glauben dass hier einer den anderen ausnutzt oder ausgenutzt wird.

    und wenn ich mir die geschichte da oben noch mal so durchlese glaube ich auch: sie muß ein toller mensch sein…

  • Liebe Autorin,
    Vorrausgesetzt du meinst mit deinem besten Freund einen Mann:
    Für mich hört es sich so an als würdest du deinen „besten Freund“ auf gemeinste Weise Friendzonenen.
    Er darf dich also unterhalten, dich aufbauen, um 4 Uhr Nachts antanzen, aber dann soll er bitte rechtzeitig „den Platz räumen“?
    Ich will damit nicht andeuten, dass er ein Recht auf mehr hätte.
    Aber wenn er sowas für dich macht ist er nicht auf Freundschaft aus – beim besten Willen.
    Aber anstatt ihm ehrlich zu sagen, dass du kein Interesse an ihm hast, hältst du ihn hin? Damit du, wenn mal was schief läuft, ihn ausnutzen kannst?
    Du musst ein toller Mensch sein.
    LG

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