Da stehe ich also nun. 33 Jahre sind nach meiner Geburt vergangen – und damit versuche ich wohl den unschönen Begriff „alt“ zu vermeiden. Ich habe seither viele Leben gelebt, Erfahrungen gesammelt, Fehler gemacht (oh ja, so viele Fehler) und mich manchmal sehr verloren gefühlt.
Ich habe natürlich auch hin und wieder voll Stolz auf meine Vergangenheit, die erreichten Ziele und erworbenen Kompetenzen zurückgeschaut, aber über all dem stand doch immer wieder das Scheitern. Beziehungen, Jobs, Schulabbruch, Zahnspange verbummelt, Führerschein abgebrochen – ich war ein wandelender Nichtsnutz.
Meine Familie intervenierte, ich rebellierte. Während andere ihr Abitur beendeten und sich auf Weltreise machten, schmiss ich meines und wurde im Privatstudium schwanger. Ich gab’s mir eben richtig. Eine ordentliche Portion Realität. Kein Filter, kein Instagram-Schleier und schon gar keine Perfektion.
Während andere ihr Abitur beendeten und sich auf Weltreise machten, schmiss ich meines und wurde im Privatstudium schwanger.
Alleinerziehenden-Probleme und ein Alltag zwischen Heulanfall und Hartz4-Antrag. Zwischendurch putzte ich auf allen Vieren fremder Leute Wohnungen und fand mich grübelnd über der Frage wieder, welcher Mann mein zukünftiger Traumprinz und großer Retter werden sollte. Noch blieb mir ja mein nettes Aussehen, meine zarte Jugend, mein süßer Charme.
Und so wühlte ich mich weiter durch dieses Leben, auf der Suche nach einem für mich geeigneten Weg und arbeitete mich durch Jobs, eine erwachsene Ausbildung und eine Liebe, die einem Musiker gewidmet war, der mir melancholische Lieder schrieb und später immer betonen würde, unsere Beziehung sei leidenschaftlich und sehr kompliziert. So landete ich immer und immer auf dem harten Boden der Tatsachen – da draußen gibt es keine Helden. Da gibt es mich und mein Kind.
Weil mir dies aber nicht zu reichen schien, fand ich wieder einen Partner, der mich schwängerte. Einen Mann, der gar nicht zu mir passen wollte und ein Leben, was ebenfalls erdrückend war, wenn nicht sogar einer Gefangenschaft glich. Wo lag mein Problem?
Ich begann zu reflektieren und sollte es von nun an nie wieder anders handhaben.
All das Scheitern, die Fehler, die Ängste und Umwege waren ein Zeichen für meine eigenen Unzulänglichkeiten. Generation Tschernobyl, nannte meine Mutter uns immer. Leute, die nicht einfach einer Arbeit nachgingen, die sich ständig selbst finden müssen, sich in keinem Feld sicher fühlen, Beziehungen abbrechen oder gar nicht erst eingingen.
Schulterzuckend nahm ich diesen Zynismus zur Geltung. Was sollte ich ihr auch entgegenhalten? Die komplizierte Kindheit? Die Sozialängste? Der Mangel an Vorbildern? Nein. Zu einfach.
Also ließ ich mich endlich nicht mehr von anderen definieren, lebte nicht mehr fremder Leute Leben, nahm mich endlich wahr und verließ Mann und falschen Job.
Ich begriff mich endlich und wollte all dies auch in meine Beziehung nehmen. Keine Kasperei mehr. Keine Angst mehr vor dem anderen und meinen Gefühlen.
Ich wuchs in mein neues Leben so natürlich und leicht hinein, wie Kinder aus ihrer Kleidung hinaus. Ich lernte, arbeitete, sparte an allen Ecken und Enden und war eine verdammt wache und interessierte Mutter, Studentin und Pädagogin. Ich begriff mich endlich und wollte all dies auch in meine Beziehung nehmen. Keine Kasperei mehr. Keine Angst mehr vor dem anderen und meinen Gefühlen.
Ich wuchs und wuchs in meine eigentliche Rolle. Ich wusste endlich wer ich bin, wer ich immer war – wenn auch in wirklich unsteter Ausführung.
Ich sah mich nicht mehr als gescheitert, sondern akzeptierte und achtete meinen krummen Lebensweg genau wie meine krummen Zähne. Ich liebte mich, meinen Job, meine Kinder und all die Fehler der Vergangenheit. Erfahrungen, die mich wachsen ließen und ein Gewinn wurden. Ich spielte nicht mehr die Süße oder die Verführerin. Ich war jetzt ich. Eine Frau, eine Feministin, eine Persönlichkeit. So sehr wie nie zuvor.
Was brachte mir das?
Jobwechsel – weil ich kopfschüttelnderweise über die Dummheit anderer nicht mehr hinwegsehen wollte. Fassungslosigkeit – weil es deutlich schwerer war mit einer eigenen Meinung und starker Identität akzeptiert zu werden. Große Trauer – als mich die Liebe meines Lebens für eine andere Frau austauschte, weil sich Sicherheit und Geborgenheit für manche Menschen eben auch wie ein Gefängnis anfühlen.
Vielleicht wuchs ich manchmal langsamer, unbemerkter als andere über mich hinaus, aber ich tat es. Tue es noch immer.
Wenn ich also morgens um sechs aufstehe, die Schulbrote schmiere, ein Kind zur Kita bringe und ein anderes dazu motiviere, sich nicht in der Pubertät zu verlieren. Wenn ich zur Arbeit laufe, um den Kopf frei zu bekommen und dort dann zusätzliche 20.000 Schritte verbrate. Wenn ich meine Stimme erhebe, gegen Ungerechtigkeiten, soziale Belange anspreche und mich mit anderen beschäftige, deren Meinung mir wichtig ist.
Wenn ich nachmittags einkaufe, die Kinder versorge, bespiele, lerne, organisiere und Hausarbeiten schreibe, während ich versuche, Bücher zu lesen und mich gesund zu ernähren – fühle ich manchmal, wie mein Kopf gegen die Decke stößt. Ich spüre diese innere Größe in mir. Mein Wachstum, vorbei an all den Erwartungen Vergangener.
Ich bin nicht die Frau aus deren Liedern, die Unsichere oder die Haltlose von einst. Vielleicht war ich es nie. Vielleicht wuchs ich manchmal langsamer, unbemerkter als andere über mich hinaus, aber ich tat es. Tue es noch immer. Hier bin ich jetzt. Nicht mehr auf allen Vieren und vermutlich schon bald wieder drei Etagen größer, denn dieses Leben lädt zu Wachstum ein.
Headerfoto: Jeffery Erhunse vis Unsplash. („Wahrheit oder Licht“-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür!
Sehr schöner Text und herzlichen Glückwunsch zu dir 👐🏾