„Wollt ihr euch denn nicht mal eine größere Wohnung suchen?!“
„Deine Haare sind jetzt aber zu kurz!“
„Vegan essen ist aber total ungesund für dich!“
Ob online oder offline, ob Familie, Freunde oder Fremde, ob Äußerliches, Persönliches oder Berufliches – oft ist sie da: die mal ganz subtile oder ganz offensichtlich konfrontierende Meinung der Anderen. Manchmal lieb und nett gemeint, manchmal angriffslustig und verletzend.
Sicherlich sind wir alle nicht immer einer Meinung – können wir ja auch gar nicht sein, so unterschiedlich, wie wir eben sind. Und sicherlich muss man auch in gewisser Weise lernen, mit Kritik und den Meinungen anderer umzugehen. In gewisser Weise und einem gewissen Rahmen.
Doch liegt es am Internet oder einfach in der Natur des Menschen, dass jeder zu Allem und jederzeit seine Meinung sagen muss?
Doch liegt es am Internet oder einfach in der Natur des Menschen, dass jeder zu Allem und jederzeit seine Meinung sagen muss?
Ein ganz banales, wenig dramatisches Beispiel ist der Besuch bei meiner Oma. Dort höre ich mir jedes Mal – mal mehr, mal weniger höflich lächelnd – an, ob meine Haare nun lang genug oder doch wieder viel zu kurz sind (denn dann sehe ich ja aus wie eine kranke Person).
Im Sommer darf ich mir dann anhören, dass sie ja nie von mir gedacht hätte, dass ich mich mal tätowieren lassen würde (“Das war’s jetzt aber, oder?!”).
So ist sie eben, meine liebe Oma. Und obwohl ich es meistens einfach über mich ergehen lasse, nervt mich dieses Aufzwingen ihrer Meinung. Oma, ich schneide meine Haare und lasse mir Tattoos stechen – nicht für dich, sondern für mich.
Das Internet ist zum Bewerten da
Bei meiner Oma kann ich das jedoch akzeptieren, sie ist meine Oma, ich habe sie lieb. Anders sieht das bei halbwegs bekannten bis hin zu unbekannten Menschen aus. Ob bei vergangenen Dates, in den Kommentaren unter einem Instagram Post oder in den direct Messages. Ungefragt wird kommentiert, ob mein Aussehen nun gefällt oder eben nicht. Vorzugsweise vom anderen Geschlecht.
Ungefragt wird kommentiert, ob mein Aussehen nun gefällt oder eben nicht. Vorzugsweise vom anderen Geschlecht.
Auch im beruflichen Kontext habe ich solche Situationen erlebt – man könnte diese speziellen auch als Mansplaining bezeichnen. Unaufgefordert und aus heiterem Himmel wurde mir erklärt, aus welchen Gründen ich unbedingt meinen letzten Instagram-Post löschen sollte. Wie ich mein Business zu führen hätte, über das die andere Person nicht einmal besonders gut Bescheid wusste.
Zuerst dachte ich, es sei ein gut gemeinter Ratschlag. Und dann fragte ich mich, wann ich nach diesem Ratschlag gefragt hatte. Gar nicht. Ob bewusst oder unbewusst, ging es der anderen Person nicht darum, mir zu helfen, sondern darum, sich über mich zu stellen. “Ich habe ja schon 20 Jahre Erfahrung, du nicht” – und trotzdem habe ich dich nicht nach diesen Erfahrungswerten gefragt.
Darüber hinaus scheinen die meisten zu glauben, dass, nur weil etwas online ist, dies ein Freifahrtschein für jegliche Meinungen, zu sein scheint.
Darüber hinaus scheinen die meisten zu glauben, dass, nur weil etwas online ist, dies ein Freifahrtschein für jegliche Meinungen, von positiven Komplimenten bis hin zu unterster-Schublade-Beleidigungen, zu sein scheint.
“Ist nur meine Meinung”
Doch nur weil etwas online ist, heißt das nicht, dass eine Meinung gefragt ist, sofern nicht etwa “Was denkst du darüber?” dabei steht. Das ist ungefähr so, als würde man jemandem einfach so, aus heiterem Himmel auf der Straße diese Meinung hinterher rufen. Da würden drei Sekunden Reflexion, ob man sich das in dem Rahmen ebenfalls trauen würde, mal helfen.
Mir scheint es, als sei die allgemeine Meinung bezüglich Meinungen „Ich sage was ich will, wann ich will, zu wem ich will. Egal, ob es dich interessiert oder nicht, egal, ob relevant oder nicht – hier bitteschön!“ Danke – oder warte – eher doch nicht. Ich habe nicht danach gefragt!
Danke – oder warte – eher doch nicht. Ich habe nicht danach gefragt!
Im persönlichen Umfeld werden Entscheidungen und Lebensweisen hinterfragt und Vorschläge gemacht, wo gar keine Frage war. In meinem Fall die leicht fordernde Frage „Wollt ihr euch nicht mal eine größere Wohnung suchen?“.
Weil etwas für die andere Person unvorstellbar scheint, muss das automatisch auch für mich gelten. Was mich stört, ist nicht einmal die Frage an sich – fragen kann man ja mal, kommt halt nur darauf an, wie gefragt wird. Was mich stört, ist die immer wiederkehrende Fragerei. Warum kann das nicht abgehakt werden?
Oft und gerne kritisiert werden auch persönliche Werte und kontroverse Themen, wie beispielsweise die eigene Ernährung. Vegetarisch oder gar vegan essen? Oft ein hitziges Thema, z. B. bei familiären Zusammenkünften.
Dort wird man mit allen möglichen, absurden Argumenten, die absolut gegen den Verzicht auf tierische Produkte sprechen, konfrontiert – selbstverständlich ohne danach gefragt zu werden. Und selbstverständlich ist es die andere Person, die sich Wochen oder Monate damit beschäftigt hat.
Aber es sind immer die Veganer, die den Streit anzetteln. Natürlich. Und mal ganz blöd gefragt: Was hat denn die andere Person davon, mich vom Fleisch-Essen überzeugen zu wollen?!
Ja, warum müssen Menschen anderen immer wieder die eigene Meinung aufzwingen, Grenzen maß- und respektlos überschreiten?
Ja, warum müssen Menschen anderen immer wieder die eigene Meinung aufzwingen, Grenzen maß- und respektlos überschreiten? Nur weil die eine Person etwas denkt oder glaubt, denkt oder glaubt es die andere Person nicht automatisch.
Erst denken, dann sprechen
Nur weil die eine Person etwas für harmlos oder für bloß einfach so dahergesagt hält, heißt das nicht, dass es die andere Person nicht beschäftigt oder verletzt – und die eigene Meinung tut da auch nichts zur Sache.
Warum können wir die eigene Meinung nicht einfach für uns behalten, solange sie nicht gefragt ist? Ist ja nicht so, als würden wir sofort explodieren, wenn wir unseren ach so wichtigen Senf nicht immer und überall dazu geben.
Leben und leben lassen scheint irgendwie keinen hohen Wert zu haben.
Leben und leben lassen scheint irgendwie keinen hohen Wert zu haben. Dabei sollten wir uns vielleicht einfach mal ein bisschen mehr um unseren eigenen Kram und viel weniger um den der anderen kümmern. Wenigstens mal mehr reflektieren und uns in die andere Person hineinversetzen, bevor wir unseren Senf dazugeben.
Denn jede:r von uns lebt in einer eigenen Realität, nimmt die Welt und das Leben anders wahr. Wir haben alle unsere eigenen Werte, Ideale, Vorstellungen und Erfahrungen, auf die wir zurückgreifen. Manchmal überschneiden sich diese und manchmal gehen sie in ganz unterschiedliche Richtungen.
Die eigene Realität wird nie allgemeingültig sein. Kann man doch mal so hinnehmen, statt andere immer vom Gegenteil überzeugen zu wollen.
Die eigene Realität wird jedoch nie allgemeingültig sein. Kann man doch mal so hinnehmen, statt andere immer vom Gegenteil überzeugen zu wollen.
Nicht jede Meinung hat einen Mehrwert für die Anderen
Ich für meinen Teil glaube, dass wir mit der eigene Meinung nicht viel zum Leben der anderen Person beitragen – meine Meinung. Damit meine ich die ungläubigen “Wollt ihr euch nicht mal eine größere Wohnung suchen?!”-Fragen und die besserwisserischen “Dir fehlen aber alle wichtigen Nährstoffe”-Vorwürfe, die nutzlosen “Ich fand deine Haare schöner, als sie lang waren”-Bekundungen und die unfundierten “Du solltest dein Business ganz anders angehen”-Ratschläge.
Natürlich kann man diskutieren oder Gedankenanstöße geben. Durch den Austausch wachsen wir und erweitern unseren Horizont.
Natürlich kann man diskutieren oder Gedankenanstöße geben. Durch den Austausch wachsen wir und erweitern unseren Horizont. Sowas ergibt sich jedoch im Gespräch, wenn Themen angesprochen werden und man einander zuhört. Das ist etwas anderes, als wenn ich bei der Familienfeier mein veganes Essen verzehre und Tante Erna mir quer über den Tisch erklärt, warum Fleisch und Milch lebenswichtig sind (“Außerdem haben wir das schon immer so gemacht!”).
Ich würde mir einfach öfter ein “Möchtest du meine Meinung dazu hören?” wünschen. Dann könnte ich ein freundliches “Ja bitte” oder “Nein Danke” erwidern, anstatt grummelig und genervt die Familienfeier zu verlassen.
Und warum geige ich diese Meinung nicht einfach mal der anderen Person? Nun ja, ich behalte meine Meinung dann doch eher für mich und schreibe einen passiv-aggressiven Text darüber, den ich dann im Internet veröffentliche. Nur meine Meinung.
Headerfoto: Polina Zimmerman (Kategorie-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür!