„Lass Dich von der bunten Brise treiben.“ Frei nach dem schlauen Ratschlag, den ich als Schlusssatz meines letzten Textes eingebracht habe, habe ich in den letzten beiden Wochen versucht, ihn mir selbst verstärkt vor Augen zu führen. Es klingt einfacher als es ist, sich treiben zu lassen. Was bedeutet dieses „Sich-Treiben-Lassen“ eigentlich?
Die Redewendung lässt viel Interpretationsspielraum für jeden von uns. Ich selbst habe versucht, nicht ausschließlich meinem gewohnten Alltag nachzugehen, sondern mehr auf mein Gefühl zu hören. Da die Abende im Sommer herrlich lang sind, habe ich mich intuitiv von meinem Bauchgefühl leiten lassen und den Moment so wahrgenommen, wie meine Umgebung ihn zugelassen hat.
Welche Gespräche haben mich inspiriert? Welche Ereignisse haben meine Stimmung inwiefern beeinflusst und wonach steht mir der Sinn im Hier und Jetzt eigentlich?
Das ist dein Leben, das du dir ausgesucht oder an manchen Stellen mühsam erarbeitet hast. Mit all deinen Erfahrungen und Erlebnissen hast du dein Selbst geformt.
Und bevor das Gedankenkarussell in Fahrt kommen kann, schwinge ich mich bei diesen herrlich sommerlichen Temperaturen auf mein Fahrrad und radle einfach los. Aber ich fahre nicht meinen gewohnten Heimweg entlang, sondern nehme für heute eine andere Route.
Frei nach meinem Gefühl lasse ich mich von der Brise, die mir entgegenweht, treiben. Vorbei an all den fremden Menschen, der Vielzahl an Gerüchen und Eindrücken. Ich lausche nur der Melodie, die mein Gehör beflügelt. Nach ein paar Minuten halte ich an, schaue aufs Wasser, der Abendsonne entgegen, dessen Antlitz von einem tiefen und kraftvollen Orange durchflutet wird und bin für eine Weile schweigsam bei mir. Ganz bei mir selbst.
Ich horche in mein Inneres und nehme außer dem Rauschen der Wellen nichts wahr. Pure Stille in meinem Kopf. Auf einer tieferen Ebene nehme ich nur die Glückhormone wahr, die meinen Körper durchfluten. „Das ist dein Leben, das du dir ausgesucht oder an manchen Stellen mühsam erarbeitet hast. Mit all deinen Erfahrungen und Erlebnissen hast du dein Selbst geformt“, flüstert mir meine innere Stimme zu.
Und ohne es zu wollen, streift am Horizont meines Selbst ein philosophischer Funken. Ich denke nach. Über mich, meine Ziele, Errungenschaften, meine Freunde, meine Familie und über den Moment der Gegenwart.
Ich lasse los. Lasse mich von dem Funken inspirieren, mitreißen in eine andere Sphäre und doch bin ich ganz bei mir. Ein Lächeln entwickelt sich in meinem Gesicht, während die letzten Sonnenstrahlen meine Haut berühren. Habe ich in dieser Woche all das geschafft, was auf meiner To-Do-Liste stand? Nein. Bin ich dem ein oder anderen Vorsatz nachgegangen, der sich schon lange in meinen Kopf gepflanzt hat? Vielleicht. An wen oder was denke ich gerade? Nur an diesen wunderbaren Moment, der meine Seele einmal tief durchatmen lässt.
Was bedeutet eigentlich das Wort „Zuhause“? Ist es Dein eigenes Schneckengehäuse, das Dich täglich umgibt, 24 Stunden lang?
Dabei fällt mir das Gespräch mit einem guten Freund ein. Das Thema war, wo man sich selbst Zuhause fühlt. Was bedeutet eigentlich das Wort „Zuhause“? Ist es ein Ort, an dem man sein Krimskrams verstaut, die Wohnung, die man sich über Jahre mühsam eingerichtet hat, sodass sie in einem Interior Magazin abgelichtet werden könnte? Sind es die Menschen, die Dir vertraut sind, denen Du jedes Geheimnis, jede Schwäche oder jedes Gefühl erzählen würdest oder ist es Dein eigenes Schneckengehäuse, das Dich täglich umgibt, 24 Stunden lang?
Dieser gute Freund sagte mir, dass er überall dort Zuhause sei, wo er gerade ist. Ein beeindruckender Gedanke, oder? Frei von Deiner Familie, Deinen Freunden, Deinem gewohnten Umfeld prägst Du selbst Dein Zuhause ganz allein. Unheimlich beeindruckend oder naiv? „Nun ja, wenn am Ende keiner übrig wäre, hättest du nur dich selbst“, sagte er mit übergreifender Stärke und einem Hauch von Wehmut. Und doch hat er Recht, denn das ist genau das, was das „Sich-Treiben-Lassen“ bedeutet.
Man nimmt das Leben mit all seinen Auf und Abs, so wie es kommt. Man versucht, Herr der Situation oder Gegebenheit zu sein und das Beste daraus zu machen – oder eben den Moment zu genießen, der einen gerade umgibt. In manchen Momenten beflügelt Dich ein Gefühl von Mut, weil Du auf die lodernde Flamme in Dir hörst, die Deinen Tatendrang, Deinen Lebenswillen täglich befeuert.
In anderen Momenten überkommt Dich die Angst, dass schwer zu meisternde Ereignisse der Vergangenheit erneut eintreffen könnten. Manchmal umgibt Dich ein Hauch von Trauer, weil Du einige Dinge, Gegebenheiten noch nicht ausreichend verarbeiten konntest und sie so in einer Schublade Deines Unterbewusstseins schlummern lässt. Du denkst zurück an alte Zeiten, wie unbeschwert Deine Kindheit war und welche Umstände Deine Freiheit heute einschränken.
Du kannst zwar die Vergangenheit durch Deine Erinnerungen Revue passieren lassen, doch viel wichtiger ist es, Dir das Hier und Jetzt vor Augen zu halten.
Ich denke oft an letztere zurück – aber nur, um daraus neue Kraft zu schöpfen, jeden Tag aufs Neue. Nach einem kurzen Moment der Wehmut, lächelt mein Ich mir erneut zu. Du kannst zwar die Vergangenheit durch Deine Erinnerungen Revue passieren lassen, doch viel wichtiger ist es, Dir das Hier und Jetzt vor Augen zu halten.
Meine Stimme verweilt im Moment des Daseins in der hinteren Ecke meines Geists und ist einfach glücklich, egal wohin mich mein Bauchgefühl heute hintreiben ließ. In diesem Moment verstehe ich, was mir mein guter Freund nahelegte.
Um mich herum sind alle Eindrücke verschwommen. Ich erkenne nur in groben Wellen das Wasser, ich nehme die Abendsonne nur leicht mit den Härchen meiner Haut wahr, bis ich meine Augen schließe und wie durch Magie ein Lächeln auf meinen Lippen entsteht. Der Moment ist vollkommen. Ich bin ganz nah bei mir und fühle mich tatsächlich Zuhause. Im Hier und Jetzt. Ganz mit mir allein.
Mit welchem Gedanken wirst Du morgen aufwachen? Richtig, mit dem, dass Du glücklich darüber bist, dass Dich Dein Zuhause jeden Tag begleitet. 24 Stunden, tagein, tagaus. Egal, wo Du gerade bist, mit wem Du den Sommerabend verbringst oder wohin Dich die Brise bis zum nächsten Morgen treiben wird.
Headerfoto: Stockfoto von JKstock/Shutterstock. („Wahrheit oder Licht“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!