So, ich habe also gestern Nacht geknutscht. Voll aufregend, ich weiß. Ich muss mich tatsächlich ganz doll anstrengen, mich daran zu erinnern, wann ich das letzte mal einfach so beim Feiern mit jemand Fremden geknutscht hätte. Ich kann mich nämlich nicht daran erinnern, dass es überhaupt mal vorgekommen wäre. Und wenn, dann war ich jedenfalls noch minderjährig, also ist das alles. Ziemlich. Lange. Her.
Das Problem ist weder, dass ich etwas gegen Knutschen hätte, noch zu wenig ausgegangen wäre in meinen Zwanzigern. Ich war auch den Großteil der Zeit unglücklicher Single. Also genug Gelegenheiten und Bedarf an sporadischen, aber bitte leidenschaftlichen Lippenkoalitionen. Ich befürchte nur, ich habe mich in all den Jahren vieler aufregender Kusseskapaden beraubt … Wie? Durch gezielte Selbstsabotage. Warum? Ist doch immer alles aus demselben Grund: Unsicherheit. Mangel an Selbstliebe. Und so Mist.
Ich bin also oft Miss Unnahbar gewesen beim Feiern. Oft bin ich das, weil die Mehrheit der betrunkenen Avancen wirklich reine Genervtheit in mir auslösen. Je später es wird, desto dreister und hartnäckiger werden einige Männer mit Pegel, das gehört, schätze ich, leider zum Ausgehpaket dazu. Aber selbst wenn ich mal jemanden gut fand, auch dann lief das eher so: Ich spotte ihn im Laufe des Abends. In meinem Kopf habe ich automatisch immer einen halben Blick auf diese Person, ohne wirklich hinzusehen, versteht sich. Ich weiß grob, wo er sich befindet, ob in der Nähe, weiter weg, mit wem er unterwegs ist, wie die so gestreut sind. Wir sind dann innerlich für mich so etwas wie Freunde für eine Nacht und ich bin immer absurderweise minimal enttäuscht, wenn er dann plötzlich geht, ohne tschüss gesagt zu haben.
Ich war mir in all den Jahren jedoch sicher, siehe Thema maximale Selbstfehleinschätzung, dass diese Anziehung einseitig ist. Definitiv. Selbst wenn sich diese Person im Rumgeschubse körperlicher Bewegungsakte immer mal wieder in meinen Tanzbereich getraut hat, habe ich die Distanz eiskalt aufrecht erhalten. Und bin sogar geflüchtet. Und wenn sie wieder kam, dann bin ich eben wieder geflüchtet. Und so weiter. Richtig dumm, das sehe ich jetzt auch ein. Ich habe damals – Hand aufs Herz – nicht verstanden, dass es sein könnte, dass der Gegenpart mich auch gut findet. Und dass diese Annäherung sein unaufdringliches Zeichen ist, dass er nichts gegen, zum Beispiel, Knutschen hätte.
Ich musste leider Ende Zwanzig werden, um zwei Dinge zu kapieren: Anscheinend bin ich eine attraktive Frau, die sich keine Sorgen machen braucht, nicht auch mal von der Männerwelt gut gefunden zu werden. Und, viel wichtiger: Wenn ich das Gefühl habe, da liegt etwas in der Luft zwischen mir und einem Kerl – so ein flirtiger Vibe, ein bisschen Spannung, Funken und Glitter … dann besteht eine recht gute Chance, dass ich mir das nicht aufgrund von Paranoia einbilde. Mindblowing, I know. Früher dachte ich: „Wenn er nicht zu mir kommt und mir direkt ins Gesicht sagt, dass ich ihm hübsch aufgefallen bin, dann ist es nicht so. Kann es nicht sein.“ Bloß nichts einbilden. Ich könnte mich ja blamieren bei soviel Arroganz und Überheblichkeit.
Gestern war also mein großer Moment. Ich hatte wieder mal so chemische Atomverkuppelungen in der Luft zwischen mir und diesem Kerl wahrgenommen. Wie immer ließ mich seine Unaufdringlichkeit die erste Zeit nur stark an meiner Wahrnehmung zweifeln. „Woran mache ich denn aus, dass er das ähnlich empfindet? Wenn ich hinsehe, sieht er ja weg. Aber wenn er hinsieht, sehe ich ja auch weg. Ach fuck.“ Bis er plötzlich neben mir stand. Und vor mir. Meine Gedanken im O-Ton: „Meint er meine Freundin? Nein, er lächelt mich an. Lächelt er mich an, weil ich die hässliche Freundin bin, über die man sich ans wahre Ziel ran arbeitet? Hör auf, Mari, so wolltest du nicht mehr über dich denken.“ Also tue ich, was ich sonst nie getan habe: Ich renne nicht weg. Ich flüchte nicht sofort auf Toilette oder an die Bar. Ich ignoriere ihn auch nicht so lange so hart, bis er entmutigt das Feld räumt. Um mich dann auf meinem Nachhauseweg zu fragen, ob das schon wieder so ein verpasster Moment war.
Es dauert nicht lange und wir reden. Wow, das ist einfacher, als ich dachte. Und ich spüre seine Hände an meinem Rücken. Meiner Taille. Die leichte Berührung an der Schulter. Die Blicke ein wenig länger. Ich spüre kleine Gefühle in meinem Bauch. Fragen, er stellt mir irgendwelche Fragen. Er zeigt Interesse an mir. „Ok“, denke ich ganz mutig, „ich glaube, ich kann das mal als Flirten hier deuten. Wahnsinn. Ach, er ist wirklich schön. Schöne blaue Augen. Nur, was er redet, verwirrt mich … Er hat einen komischen Namen, ist nur bis morgen in der Stadt. Es folgen weitere unklare Angaben, ein mysteriöser Beruf. Normalerweise sagt er den Leuten den nicht, aber mir sagt er die Wahrheit, weil er nicht gerne lügt. Er betont später noch mal, dass er nicht gerne lügt. Na ja. Vielleicht sollte ich mir meine skeptische Haltung nicht ganz aus dem Kopf schlagen.
Irgendwann habe ich ein schlechtes Gewissen und gehe zu meiner Freundin zurück. Vielleicht hat mich das Gespräch auch ein wenig desillusioniert. Meine Freundin jedenfalls findet das gar nicht so super, dass ich von ihm weg bin. Sie fänd’s gut, wenn ich das mit dem Offline-Ding ruhig mal probiere. Wir haben uns schon öfter darüber unterhalten. Ich falle mehr so in die Kategorie App-Dating-Queen. Sie organisiert also mal eben Kurze an der Bar und will mich dann wieder bei ihm abgeben, aber er … ist nicht mehr aufzufinden. Nur sein besoffener Freund ist noch da.
Wir wollen gerade nach Hause gehen, da sehe ich ihn alleine vor der Tanzfläche sitzend. Wie bestellt strahlt er mich an und ohne weiter darüber nachzudenken, gehe ich auf ihn zu und küsse ihn. Läuft doch, ich kann das hier. Er scheint überrascht, freut sich aber. Ich verabschiede mich nach ein paar Minuten, ich will nämlich nach Hause in mein Bett. Ich muss gestehen, beim Knutschen habe ich leider festgestellt, dass weder mein Gefühl noch mein Körper gerade mehr von den schönen blauen Augen wollen. Ich gehe also Richtung Ausgang, er rennt mir hinterher. Er will mehr. Er zieht mich zurück. Zieht mich durch den Club. Und will mit mir … auf die Toilette? Ernsthaft? Nein.
Wann ist diese ganze Flirtsache eigentlich zu einer so unromantischen Kiste geworden? Ich halte an, erkläre nett, dass ich nicht mit ihm auf die Toilette gehen werde und bewege mich Richtung Garderobe. Er kommt nach einer Anstandsweile nach. Wir knutschen weiter rum. Inzwischen vor dem Club. Ich weiß, noch hofft er, dass ich nicht vorhabe, ohne ihn zu gehen. „Du bist schön, du findest schon noch eine, die mit dir nach Hause geht“, denke ich, behalte es aber für mich. Ich sage bloß, dass ich jetzt heim gehe. Dass ich ihm noch eine gute Nacht und ein schönes Leben wünsche. Er lacht. Ich haue ab. Er sieht mir hinterher. The end. Keine Nummer, kein Social Media, nichts. So plötzlich die Verbindung da war, so unaufregend ist sie auch wieder gelöst.
Ich jedenfalls tapse mehr als glücklich nach Hause. Nicht weil ich mit einem schönen Mann geknutscht habe. Also deswegen auch. Aber vor allem, weil ich beginne zu begreifen, dass ich all die Jahre vielleicht keine Klatsche hatte. Sondern nur ein ganz gutes Gespür dafür, wer mich gut findet. Und es gibt für mich bis heute kaum ein schöneres Gefühl als das, mich auf mein Bauchgefühl verlassen zu können.[fb_button]
Headerfoto: Mike Monaghan via Creative Commons Lizenz 2.0! (Gedankenspiel-Button hinzugefügt.) Danke dafür.
Oh ja… Aber ein bisschen wundert s einen dann doch, wenn es passt und man merkt… der hat mich scheinbar auch bemerkt. Trotzdem irgendwie furchtbar und traurig, wie wir velernt haben charmant u lustig zu flirten.
Cooler Beitrag. Geht mir oft auch so, dass ich mich, vor allem bei Dates, die aus Online-Apps entstanden sind, frage, ob ich nicht einen Kuss hätte zulassen sollen.