„Marie muss aber mal ein bisschen aufpassen“, sagte Lisa, als wir die Packung Gummibärchen öffneten, die eigentlich Marie gehörte. Wir alle wussten, was sie damit meinte: Maries Gewicht.
Mir schossen augenblicklich Tränen in die Augen und ich saß regungslos da. Marie ist meine beste Freundin und kämpft nun schon seit längerem mit einer stetigen Gewichtszunahme, ausgelöst durch Medikamente, die sie nehmen muss. Warum dieser kleine Satz eine so große Reaktion in mir hervorrief?
Unbedachte Kommentare mit Triggerpotenzial
Der Grund war Wut, pure Wut, die ich im ersten Moment gar nicht als solche fassen konnte. Ich überlegte fiebrig, was ich Lisa entgegnen oder am besten an den Kopf werfen konnte, aber die aufsteigende Wut vernebelte meine Gedanken und ließ mich schweigen.
Ich überlegte fiebrig, was ich Lisa entgegnen oder am besten an den Kopf werfen konnte, aber die aufsteigende Wut vernebelte meine Gedanken und ließ mich schweigen.
Erst am Tag danach konnte ich die Wut und den damit einhergehenden Schmerz zuordnen und greifen. Und weil mich diese Gefühle auch Tage später noch beschäftigen, habe ich beschlossen, darüber zu schreiben.
Um meiner Wut Raum zu geben und ihr dadurch die Kraft zu nehmen, die mich gerade so unruhig durch die Gegend rennen lässt. Und um auf ein wichtiges Thema aufmerksam zu machen und mehr Menschen dafür zu sensibilisieren. Denn solche Sätze können Traumata auslösen.
Subjektive Wahrnehmung und unbewusste Bewertung
Nähern wir uns dem Thema nüchtern und ohne Emotionen, um es von Grund auf zu verstehen, ist da erst einmal eine Ausgangssituation, die eine Aussage wie diese verursacht. Jemand sieht vermeintlich anders aus als sonst, vermeintlich hat sich etwas an seinem Gewicht verändert. Ich sage bewusst „vermeintlich“, weil dies zunächst nur eine rein subjektive Annahme des Gegenübers ist.
Jemand sieht vermeintlich anders aus als sonst, vermeintlich hat sich etwas an seinem Gewicht verändert. Ich sage bewusst „vermeintlich“, weil dies zunächst nur eine rein subjektive Annahme des Gegenübers ist.
Dafür gibt es keine Bestätigung, solange die betreffende Person dem nicht zugestimmt hat. Abgesehen davon ist ohnehin fragwürdig, ob eine solche Annahme überhaupt angesprochen werden sollte, wo doch mit dem Thema Körpergewicht Schmerzpunkte und -erfahrungen verknüpft sein können und eine Triggergefahr besteht.
Eine solche Aussage ist schlichtweg übergriffig. Noch dazu können wir grundsätzlich hinterfragen, warum wir uns überhaupt Gedanken über das Aussehen eines anderen Menschen machen.
Es ist ohnehin fragwürdig, ob eine solche Annahme überhaupt angesprochen werden sollte, wo doch mit dem Thema Körpergewicht Schmerzpunkte und -erfahrungen verknüpft sein können und eine Triggergefahr besteht.
Ein Satz wie der genannte ist jedenfalls nicht nur einfach eine Aussage. Darin schwingt so viel mehr mit. Denn der nächste Schritt, der auf die subjektive Wahrnehmung einer Veränderung folgt, ist die Bewertung und Beurteilung dieser Veränderung. Bei den meisten Menschen passieren diese Schritte im Kopf beinahe gleichzeitig und vollkommen unbewusst.
Die Bewertung basiert auf unserem Wissen, unserer Erziehung und unseren Erfahrungen. Und leider ist es so, dass in der Mehrheit der Köpfe die Zunahme an Körpergewicht negativ bewertet wird. Und leider ist es dabei auch egal, ob es sich um den eigenen oder den Körper anderer handelt.
Bei den meisten Menschen passieren diese Schritte im Kopf beinahe gleichzeitig und vollkommen unbewusst.
Auch dieses tief in ihnen verankerte Schönheitsideal und das Messen von Körpern daran sind vielen Menschen gar nicht bewusst und werden somit nicht hinterfragt. Solange dieses Ideal von Medien, einer milliardenschweren Industrie und einer Gesellschaft weitergetragen wird, kann sich daran aber auch nur schleppend etwas ändern.
Wenn die Gött:innen in Weiß das sagen …
Neben der negativen Bewertung schwingt in der genannten Aussage aber auch noch mit, dass die Zunahme an Körpergewicht sogar gesundheitsschädlich sein kann. Es heißt, man müsse „aufpassen“.
Dazu erst einmal die Anmerkung: Wie beurteile ich, dass jemand übergewichtig ist oder bald sein wird und damit (angeblich) seine Gesundheit gefährdet (und warum zur Hölle maße ich mir das überhaupt an)? Am bloßen Aussehen? Ernsthaft?
Wie beurteile ich, dass jemand übergewichtig ist oder bald sein wird und damit (angeblich) seine Gesundheit gefährdet (und warum zur Hölle maße ich mir das überhaupt an)? Am bloßen Aussehen? Ernsthaft?
Wenn Übergewicht „tatsächlich“ festgestellt werden soll, wird gerne der Body Mass Index, kurz BMI, genutzt. Der steht jedoch zurecht in der Kritik, weil er lediglich Körpergröße und Körpergewicht ins Verhältnis setzt und andere, maßgebliche Faktoren – wie etwa das Geschlecht, das Alter oder die Fettverteilung – ignoriert.
Warum wird er trotzdem nach wie vor zurate gezogen? Naja, er kommt immerhin der Industrie von Diätprogrammen und -mitteln gerade recht und wird deshalb absichtlich nicht negiert.
Außerdem komme ich nicht umhin, an dieser Stelle hinzuzufügen, dass auch viele Schulmediziner:innen noch nicht ausreichend geschult und sensibilisiert sind. Viele Ärzt:innen neigen dazu, Patient:innen, die mit ihrem Körpergewicht weder dem Ideal noch dem BMI (wenn dieser überhaupt festgestellt wird) entsprechen, vorschnell eine Diät oder Sport zu empfehlen, ohne sich überhaupt ihren wahren Sorgen und Beschwerden zu widmen und sie zu untersuchen.
Viele Ärzt:innen neigen dazu, Patient:innen, die mit ihrem Körpergewicht weder dem Ideal noch dem BMI entsprechen, vorschnell eine Diät oder Sport zu empfehlen, ohne sich überhaupt ihren wahren Sorgen und Beschwerden zu widmen und sie zu untersuchen.
Diese Herangehensweise ist aus mehreren Gründen falsch. Zum einen werden so Krankheiten übersehen, die gar nicht in Zusammenhang mit dem Gewicht stehen müssen und auch nicht durch eine Ernährungsumstellung oder Sport behoben werden können.
Zum anderen kann Übergewicht, wenn es denn besteht, ganz andere Ursachen als eine „falsche“ Ernährung oder zu wenig Bewegung haben. Noch dazu kann dieses Verhalten dazu führen, dass sich Menschen mit solchen Diskriminierungserfahrungen weniger oder gar nicht mehr zum Arzt oder zur Ärztin trauen und so erst recht Krankheiten übersehen werden.
Dieses Verhalten kann dazu führen, dass sich Menschen mit solchen Diskriminierungserfahrungen weniger oder gar nicht mehr zum:zur Arzt:Ärztin trauen und so erst recht Krankheiten übersehen werden.
Doch für viele gilt: Wenn selbst die Gött:innen in Weiß Gewicht und Gesundheit in unmittelbaren, zwangsläufigen Zusammenhang bringen, dann muss da ja was dran sein.
Lasst uns bewusster wahrnehmen und kämpfen!
Das Traumatisierende an einem solchen Satz ist demnach nicht unbedingt nur der Satz alleine – alle damit einhergehenden Botschaften und Hintergründe spielen auch eine Rolle. Und die Erfahrungen, die der Mensch bis zu diesem Moment bereits gemacht hat, sowieso.
Übrigens: Hat ein Mensch einen bestimmten Satz, mit dem er negativ beurteilt wurde, in seiner Kindheit immer und immer wieder gesagt bekommen, haben „bloße“ Worte durchaus die Kraft, ein Trauma auszulösen.
Hat ein Mensch einen bestimmten Satz, mit dem er negativ beurteilt wurde, in seiner Kindheit immer und immer wieder gesagt bekommen, haben „bloße“ Worte durchaus die Kraft, ein Trauma auszulösen.
Vielleicht ist es jetzt für den einen oder die andere verständlicher, warum der Satz eine so krasse Reaktion in mir ausgelöst hat. Eben nicht nur, weil Marie meine beste Freundin ist, für die ich selbstverständlich jederzeit in den Boxring steigen würde.
Und auch nicht nur wegen meiner eigenen Geschichte mit meinem Körper, die zwar nicht von Fat-Shaming erzählt, aber von den gesundheitsschädigenden Auswirkungen einer von Idealen gesteuerten und gestörten Gesellschaft. Sondern vor allem wegen all der Ebenen, deren sich viel zu viele Menschen nicht bewusst sind.
Mein Appell zum Schluss:
Bitte trefft keine Aussagen wie die genannte – egal, ob die Person im Raum ist oder nicht. Ihr könnt euch weder sicher über die Gewichtsänderung noch über die Hintergründe sein. Mit einer solchen Aussage geht ihr immer das Risiko ein, euer Gegenüber zu verletzen, zu triggern oder sogar zu retraumatisieren.
Bitte trefft keine Aussagen wie die genannte – egal, ob die Person im Raum ist oder nicht. Mit einer solchen Aussage geht ihr immer das Risiko ein, euer Gegenüber zu verletzen, zu triggern oder sogar zu retraumatisieren.
Bitte schult außerdem eure eigene Wahrnehmung, um eure automatisierten Gedanken- und Bewertungsmuster (die wir alle haben) zu erkennen und euch bewusst dazu entscheiden zu können, sie nicht auszusprechen und irgendwann ganz zu verlernen.
Und wenn ihr anwesend sein solltet, wenn jemand anderes einen solchen Satz sagt, dann äußert euch dazu – eine Grundlage für eure Argumente habt ihr ja jetzt. Lasst uns gegen Diskriminierung und Fat-Shaming einstehen. Solange, bis irgendwann das Körpergewicht oder Aussehen eines anderen Menschen gar keine Rolle mehr spielt!
Headerfoto: Houcine Ncib via Unsplash. (Kategorie-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür!
Liebe Leonie,
mir hat Dein Text gefallen und erkenne mich in Vielem wieder.
Ich kenne einen lieben Menschen, der sehr stark an Gewicht zugenommen hat. Ich habe es nie gesagt, aber trotzdem würde ich gerne helfen bzw. verstehen. Ich habe diesen Menschen gefragt, ob es ihr gut geht und ich erfuhr, dass sie aus teilweiser Überforderung (zweifache, junge Mutter), sich mit Süßem belohnt. Ich habe nur zugehört und nehme ihr manchmal die Kinder ab. Trotzdem spüre ich den Impuls, ihr zu sagen, dass diese Art von Belohnung nicht besonders gut ist. Wahrscheinlich weiß sie es selbst und ich brauch es nicht zusagen. Diesen Impuls zu unterdrücken ist nicht immer einfach, aber solche Artikel, wie Deiner, helfen ein wenig. Danke!
Viele Grüße Stefan