Wie viel Nähe brauche ich eigentlich? Zwischen der Angst vorm Alleinsein und leeren Sozial-Akkus

Die Tage unserer Autorin waren in letzter Zeit so mit Verabredungen gefüllt, dass sie dringend eine Auszeit bräuchte. Aber warum ist sie so erschöpft und andere nicht? Ist sie vielleicht introvertiert? Zum Glück hat sie durch ihre Therapie schon einiges über sich gelernt.

Voller Wonne in die Mai-Verabredungen

Das Nähe-Distanz-Thema schwirrt mir mal wieder im Kopf herum. Es ist Mai. Nicht nur die Natur zeigt sich in voller Blüte, auch wir Menschen blühen auf, gehen raus, treffen uns, angetrieben durch die längeren Tage und die noch zart wärmende Maisonne. Nach der großen Distanz in der Coronazeit scheint der Drang noch viel größer, sich wieder bei jeder Gelegenheit zusammenzutun. Auch ich bin diesem Drang nachgegangen, hab mich viel verabredet, bin rausgegangen, hab mich in Gesellschaft gewiegt.

Doch in den vergangenen Tagen wurde ich immer unruhiger, schlief schlecht, fühlte mich reizüberflutet. Ich brauchte mal wieder Zeit für mich. Aber wie geht das, wenn man es fast schon nicht mehr gewohnt ist? Manchmal hab ich Angst vor der Leere, die entstehen könnte, wenn ich mal nur mit mir bin und zur Ruhe komme. Aber gleichzeitig merke ich, dass meine Akkus immer leerer werden, eben weil ich so viel mit anderen bin. Ich bin ein empathisches Wesen. Ich fühle intensiv mit mir aber auch mit anderen. Genau deswegen brauch ich den Ausgleich.

Manchmal hab ich Angst vor der Leere, die entstehen könnte, wenn ich mal nur mit mir bin und zur Ruhe komme.

Ich brauche Zeiten mit mir allein. Wenn ich dann sehe, wie andere vermeintlich immer mit anderen sein können, ertapp ich mich mit der Frage, ob mit mir etwas nicht stimmen könnte. Oder gilt es eher die Frage zu stellen, um mich damit von meinem eigenen vermeintlich „Pathologischen“ zu distanzieren?

Gibt es Menschen, die grundlegend ein viel stärkeres Nähe-Bedürfnis haben als andere? Ist es wirklich so, dass die Extrovertierten diejenigen sind, die sich ihre Energieakkus im sozialen Miteinander auffüllen und die Introvertierten die, die das dann mit sich allein machen? Kann man einen jeden Menschen in die jeweilige Schublade stecken? Bin ich denn dann introvertiert? Geb ich mir den Stempel? Oder ist dieses Nähe-Distanz-Thema etwas, das sich von Tag zu Tag ändert? Worum geht’s denn da eigentlich?

Meine Wassertonne ist voll

Ich dachte längere Zeit, dass ich ständig ganz viel Nähe brauche, dass ich richtig durste danach. In den letzten Jahren habe ich durch Therapie und private Beziehungen meinen Tank aufgefüllt. Es gibt doch in Häusern auf dem Land Wasser-Zisternen, die sich immer wieder füllen, wenn es regnet. Wenn man gut haushält mit dem Wasserbedarf gibt es immer genug Wasser. Einerseits geht es darum, mit dem Vorrat achtsam umzugehen, andererseits ist der Tank aber auch abhängig von dem Außen, vom Regen, der wieder neues Wasser bringt.

Grundlegend tanke ich mein Lebenselixier, die Beziehungen, von außen, aber ich allein bin diejenige, die auf den Verbrauch der gezogenen Nähe achten muss.

Um diese Metapher mal auf das Nähe-Distanz-Thema zu übertragen: Grundlegend tanke ich mein Lebenselixier, die Beziehungen, von außen, aber ich allein bin diejenige, die auf den Verbrauch der gezogenen Nähe achten muss. Anders als bei der Regentonne hab ich zum Glück doch ein wenig Einfluss auf die Nahrung von außen. Bin ich etwa eine Wettergöttin?

Was mich die letzten Jahre gelehrt haben

Rückblickend war mein Tank vor einigen Jahren leider für längere Zeit ziemlich leer. Der war trocken, fast nicht mehr lebensfähig hab ich mich gefühlt ohne die Anwesenheit einer anderen Person, ich hab kaum etwas in mich aufgenommen. Mittlerweile hat sich da Einiges verändert. Aber was hat dazu geführt? Ein wichtiger Punkt ist, dass ich gelernt habe, mich gut um mich selbst zu kümmern, eine gute Nähe zu mir selbst herzustellen. Aber es hat sich auch etwas verändert, in der Art wie ich meine Beziehungen lebe.

Ich habe gelernt, eine nahe intime Verbindung mit einem anderen Menschen aber auch Gruppen von Menschen herzustellen. Und was noch wichtiger ist: Ich habe gelernt zu spüren, wann ich satt bin, und habe Vertrauen aufgebaut, dass ich gesättigt aus der Beziehung gehen kann und wieder auftanken kann, wenn ich es brauche. Ich glaube, dass man sich selbst schon gut was geben kann, aber trotzdem brauchen wir die Verbindung mit anderen, auch das ist essenziell.

Ich habe gelernt zu spüren, wann ich satt bin, und habe Vertrauen aufgebaut, dass ich gesättigt aus der Beziehung gehen kann und wieder auftanken kann, wenn ich es brauche.

Eine Freundin und Mutter hat mir vor kurzem erzählt, wie sich ihr 2-jähriger Sohn ganz spielerisch der Thematik zuwendet. Er macht demonstrativ vor ihren Augen seine Zimmertür zu, grenzt sich dabei symbolisch und klar ab von ihr. „Ich will jetzt für mich sein!“ Aber dann macht er sie schnell wieder auf und schaut, ob die Mama noch da und noch viel wichtiger, ob sie einverstanden damit ist. Wenn es gut für ihn lief, ist dem der Fall und er lernt, sich sicher abzugrenzen.

Es braucht sichere Beziehungen

In die Distanz gehen klappt also am besten, wenn man sich sicher in seinen Beziehungen fühlt. Also sollte man sich fragen, wenn man immer wieder nach Nähe dürstet, ob denn die Beziehungen um einen rum wirklich so halt- und vielversprechend sind, wie man es eigentlich für ein entspanntes Leben bräuchte. Und ob es da nicht auch grundlegend etwas aufzufüllen gibt, etwas, das aus der Beziehungserfahrung in Kindheit und Jugend gefehlt hat.

Es ist wichtig, in seine Biografie zu schauen, um sein Bedürfnis nach Nähe und Distanz zu verstehen.

Es ist wichtig, in seine Biografie zu schauen, um sein Bedürfnis nach Nähe und Distanz zu verstehen. Es bringt aber nichts, daran festzuhalten, sich in Groll, Enttäuschung und Frust zu grämen. Viel mehr geht es darum, davon loszulassen und auf die korrigierenden Beziehungserfahrungen im Heute zu hoffen, und sich hierbei immer wieder zu reflektieren und auszuprobieren.

Ich würde mir keinen Stempel geben. In den letzten Tagen habe ich viel Yoga gemacht, hab mich in die Hängematte im Park gelegt, bin zum Wandern in die Natur, hab mich mit ein paar wenigen Freund:innen verabredet, hab die FOMO überwunden und siehe da, es geht mir schon wieder viel besser. Ich kann schlafen, der Tank ist voll.

Mal überlegen, mit wem ich mich die Tage verabrede.

Headerfoto: RF ._. studio (Kategorie-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

Valeskavalini kitzelt es in letzter Zeit ständig in den Fingern. Sie fühlt sich inspiriert und liebt es, zu schreiben. Sie hat so viel im Kopf, so viel, das raus will, gesagt werden möchte. Valeskavalini schreibt für sich, schon immer, seit der Kindheit. Sie hat Lust, es zu teilen, mag inspirieren und motivieren, Denkanstöße geben und sich mit ihrem Wirrwarr im Kopf nicht so alleine fühlen. Sie ist ein neugieriger und abenteuerlustiger Mensch, mit viel Tiefgang und Herz.

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