Im Jahr 2022 führen viele von uns Beziehungen so aufgeklärt, emanzipatorisch und gleichberechtigt wie nie zuvor. Ungleichbehandlungen zwischen den Geschlechtern werden heute auf verschiedensten Ebenen sichtbar gemacht: Gender Pay Gap, Gender Pension Gap, Gender Lifetime Earnings Gap und Gender Care Gap – die Lücken zwischen dem, was Männer und Frauen verdienen oder ohne finanziellen Verdienst leisten, lassen sich deshalb so gut berechnen, weil sie quantifizierbar sind, also in Zahlen fassbar und als Menge überschaubar. Ein weiterer Aspekt der Gleichberechtigung in Beziehungen bleibt hingegen meist unsichtbar: der Mental Load in romantischen Beziehungen und im Familienleben.
Mental Load – was bedeutet das?
Mental Load (= mentale Belastung) bedeutet, an alles zu denken, woran gedacht werden muss. Im Grunde bedeutet das, dass es neben all den sichtbaren Alltagsaufgaben auch eine Menge unsichtbare Aufgaben gibt, die gemeinhin aber nicht als richtige Aufgaben anerkannt sind und deren Erfüllung daher als selbstverständlich genommen wird. Die mentale Belastung, die daraus entsteht, wird als Mental Load bezeichnet und er wird bei einem Großteil heteronormativer Beziehungen von Frauen getragen.
Der Mental Load wird bei einem Großteil heteronormativer Beziehungen von Frauen getragen.
Unsichtbare Aufgaben werden oft nicht explizit als Aufgaben benannt, werden jedoch nebenher identifiziert, geplant und erledigt, und ermöglichen so oft erst die Durchführung von sichtbaren Aufgaben. Ein typisches Alltagsbeispiel könnte dieses sein: ein Paar wird zu einer Geburtstagsfeier eingeladen und Fragen wie „Haben wir Zeit dafür?“, „Gibt es andere Termine, die wir dafür absagen müssen?“, „Was schenken wir?“, „Sollen wir etwas zum Buffet beitragen und wenn ja, was?“, „Wer besorgt das Geschenk, wer bereitet das mitgebrachte Essen vor?“ etc. sind Organisationsfragen, die meistens am weiblichen Part der Beziehung hängen bleiben.
Je nach Beziehung, Dynamik, Arbeitszeiten, persönlichen Präferenzen, Absprachen sieht die Mental Load Verteilung unterschiedlich aus.
Je nach Beziehung, Dynamik, Arbeitszeiten, persönlichen Präferenzen, Absprachen etc. sieht die Mental Load Verteilung natürlich unterschiedlich aus. Für Paare, die (noch) keinen gemeinsamen Alltag aus Haushalt, Jobs und Familie haben, kann der unsichtbare Mental Load zum Beispiel in der Planung der nächsten Treffen und gemeinsamen Aktivitäten, im Ergreifen der Initiative und im Planen des Urlaubs liegen, schlicht: im Organisieren des Beziehungsalltags. Für Paare mit Kindern und/oder pflegebedürftigen Angehörigen überschneidet sich der Mental Load an vielen Stellen mit der Care-Arbeit, der unbezahlten Pflegearbeit, die immer noch zu 80% von Frauen geleistet wird, oft neben dem eigenen Job und Aufgaben im Haushalt.
Mental Load und Emotionale Arbeit
Zusätzlich zum Mental Load tragen Frauen in Beziehungen mit Männern oft auch die Verantwortung für die emotionale Arbeit innerhalb der Beziehung, aber auch für die Beziehungen des Paares mit anderen Menschen. Von Frauen wird oft erwartet, mehr Zeit und Energie in die Beziehungspflege zu stecken, bei Konflikten die Initiative zur Lösungsfindung zu ergreifen, die Beziehungen zu Eltern und Schwiegereltern durch regelmäßige Anrufe zu pflegen, sich um Besuch zu kümmern und dabei bestenfalls immer ein lächelndes Gesicht zu zeigen.
Aufgrund von Sozialisierung, Erziehung und Rollenbildern fällt Frauen die emotionale Arbeit oft leichter.
Aufgrund von Sozialisierung, Erziehung und Rollenbildern fällt Frauen die emotionale Arbeit oft leichter, weil sie Gefühle einfacher und lieber kommunizieren und größere Support-Netzwerke haben. Das sollte Männer aber nicht aus der Verantwortung für die emotionale Arbeit in ihren Beziehungen ziehen.
Patriarchy and capitalism, baby!
Dass der Mental Load in Beziehungen größtenteils auf den Schultern von Frauen liegt, ist natürlich kein Zufall. Unsere Gesellschaft sozialisiert Frauen so, dass sie sich für Care-Arbeit und die darunter liegende emotionale Arbeit verantwortlich fühlen und diese zu großen Teilen leisten. Die vermeintlich naturgegebene Arbeitsteilung – Männer erledigen die Lohnarbeit, Frauen kümmern sich um Familie und Haushalt – unterliegt einer kapitalistischen Logik: Karl Marx hat den Begriff der Reproduktionsarbeit als Gegensatz zur Lohnarbeit geprägt. Reproduktionsarbeit umfasst alle Tätigkeiten, die die Arbeitskraft reproduzieren, also dafür sorgen, dass die zukünftigen Arbeitenden großgezogen werden und die Arbeitskraft aufrechterhalten wird. Übersetzt heißt das: Die ursprüngliche Aufgabe der Frauen im Kapitalismus war, dafür zu sorgen, dass ihre Männer auf allen Ebenen – auch emotional und sexuell – befriedigt genug sind, um Lohnarbeit verrichten zu können.
Die ursprüngliche Aufgabe der Frauen im Kapitalismus war, dafür zu sorgen, dass ihre Männer auf allen Ebenen befriedigt genug sind, um Lohnarbeit verrichten zu können.
Wir haben uns heute davon weg entwickelt, Frauen verrichten genauso Lohnarbeit wie Männer, eh klar. Und trotzdem bleibt ein Großteil der Care-Arbeit und emotionalen Arbeit nach wie vor Frauen überlassen, bei weniger Zeit und Mehrfachbelastung. Und es ist ein patriarchaler Teufelskreis: Frauen wird von klein auf nahegelegt, dass das Umsorgen ihrer nächsten Menschen ihre Bestimmung und Aufgabe ist, ganz einfach, weil sie Frauen sind, während Männer meist in Strukturen groß werden, in denen der Mental Load von Frauen getragen wird und ihnen daher nicht auferlegt wird.
Von Diskriminierung betroffene Personen müssen neben dem Mental Load im Alltag einen besonderen Aufwand für Selbstschutz aufwenden.
Die französische Philosophin Elsa Dorlin merkte außerdem an, dass von Diskriminierung wie Misogynie, Rassismus oder Queerfeindlichkeit betroffene Personen neben dem Mental Load im Alltag einen besonderen Aufwand für Selbstschutz aufwenden müssen, so beispielsweise für die Planung sicherer Heimwege. Die damit verbundene Mehrbelastung bezeichnet sie als Dirty Care („schmutzige Pflege“) oder Negative Care („negative Pflege“). Mehrfach marginalisierte Menschen, also Menschen, die von verschiedenen Diskriminierungsformen betroffen sind, tragen oft einen noch schwereren Mental Load, weil ihre Lebensrealitäten oft noch mehr Selbstorganisation erfordern.
Wie funktioniert mehr Gleichberechtigung?
Damit der Mental Load nicht zum Mental Overload wird und keine ernsthaften psychischen Belastungen wie ein Burnout mit sich bringt, muss Veränderung geschehen. Aber auch, wenn wir uns vielleicht manchmal danach fühlen: gegenseitige Vorwürfe helfen niemandem. Sie sorgen nur für einen angespannten Boden, auf dem keine weitere ehrliche Diskussion mehr möglich ist.
Wir sollten uns fragen: wer kann überhaupt wann wie viel tragen?
Um den Mental Load gleich auf beide (oder mehrere) Schultern zu verteilen, sollten wir uns fragen: wer kann überhaupt wann wie viel tragen? Das ist von vielen Faktoren wie unserer mentalen und körperlichen Gesundheit, Kapazitäten und Ressourcen wie Zeit, Energie, Unterstützung durch andere etc. abhängig. Daher ist Kommunikation mit der Beziehungsperson über eigene Kapazitäten und Grenzen unbedingt wichtig.
Manchmal kann es hilfreich sein, sich zusammenzusetzen und unsichtbare Aufgaben durch Aufschreiben sichtbar zu machen. Dabei geht es nicht darum, Leistungen gegeneinander aufzurechnen, sondern Wertschätzung durch Sichtbarkeit zu schaffen. So kann auch besser kommuniziert werden, wer was wann übernehmen kann. Dafür lohnt es sich, feste Gespräche zur gemeinsamen Planung, aber auch zur Reflektion zu vereinbaren.
Es geht nicht darum, Leistungen gegeneinander aufzurechnen, sondern Wertschätzung durch Sichtbarkeit zu schaffen.
Außerdem können Support-Systeme aus Freund:innen und Verwandten eine wertvolle Entlastung sein, vorausgesetzt natürlich, diese Menschen sind in der Lage, Unterstützung zu leisten.
Aus diesen Mustern innerhalb der eigenen Beziehung auszubrechen, ist überhaupt nicht einfach, besonders nicht, wenn sich diese seit vielen Jahren etabliert haben. Doch: es ist nie zu spät für Veränderung und für einen Austausch über eigene Grenzen, Bedürfnisse und Wünsche.
Headerfoto: Liza Summer (Kategorie-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür!
„Für Paare, die (noch) keinen gemeinsamen Alltag aus Haushalt, Jobs und Familie haben, kann der unsichtbare Mental Load zum Beispiel in der Planung der nächsten Treffen und gemeinsamen Aktivitäten, im Ergreifen der Initiative und im Planen des Urlaubs liegen, schlicht: im Organisieren des Beziehungsalltags:“ –
Feel it 100% Das war genau meine Beziehungsrealität. Ich denke es liegt nicht nur daran, dass Frauen stärker sozialisiert werden Verantwortung in diesen Bereichen zu übernehmen, sondern dass viele Männer in ihrem Heranwachsen kaum Berührung mit Aufgaben dieser Art haben, weil sie ihnen schon von klein auf abgenommen werden. Ich habe die stille Übertragung unsichtbarer Care- und Organisationsaufgaben häufig schlichtweg als Überforderung, Unkenntnis oder mangelnde Erfahrung von Seiten meines Partner wahrgenommen. Das lässt den mental load dann noch schwerer wiegen, als wenn es eine freie und bewusste Entscheidung wäre, diesen Part zu übernehmen. Was es bräuchte, wäre eine kritischere Auseinandersetzung damit, wie junge Männer hinsichtlich Care- und Organisationsaufgaben sozialisiert werden. Denn was klein Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.