Ich fühle mich nur von Wert, wenn ich viel erreiche: „Positiver Stress“ und internalisierter Kapitalismus

Ich bin gestresst, sogar ziemlich oft. Ich habe schon oft zu viele Jobs gleichzeitig gemacht, schlafe zu wenig, sage zu selten nein zu neuen Aufgaben. Und dann sind da auch noch Menschen, die ich nicht enttäuschen und für die ich mir Zeit nehmen möchte – so viele Anforderungen von allen Seiten, so viel Druck, den ich auf mich selbst ausübe.
Eine Studie der Techniker Krankenkasse hat ergeben, dass jede:r vierte Deutsche häufig gestresst ist. Die Hauptbelastungen sind zu viel Arbeit, zu hohe Selbstansprüche und die Angst um Angehörige. Neben psychischen Folgen merkt ein Großteil der Befragten den Stress auch an körperlichen Symptomen wie Erschöpfung, Schlafstörungen und Kopfschmerzen. Kenne ich alles. 

„Entspann dich“ und positiver Stress?

Die Stressstudie aus dem Jahr 2021 heißt „Entspann dich, Deutschland“, was für mich beinahe ironisch klingt. Ich wage hier einmal die These, dass es für die meisten Menschen nicht mit ein bisschen Entspannung hier und da getan ist. Dass der Stress nicht von alleine verschwindet. Die Wurzeln vielen Übels liegen tiefer: Sie liegen in einem verinnerlichten Glauben, dass es so etwas wie „positiven Stress“ gibt. Dass wir nur etwas wert sind, wenn wir produktiv sind und Leistung bringen. Diesen Glaubenssatz tragen wir auch nach außen: Wir glorifizieren unsere getane Arbeit beinahe performativ und erzählen Menschen on- und offline, wie busy wir doch gerade sind. 

Wir glorifizieren unsere getane Arbeit beinahe performativ.

Ich kann und möchte mich davon nicht frei machen, denn auch ich habe bereits einen seltsamen Stolz empfunden, wenn Freund:innen mich besorgt auf meinen vollen Kalender hingewiesen haben. Meine Standardantwort auf die Frage „wie geht es dir?“ ist irgendwann „joa, alles ziemlich stressig gerade“ geworden. Ich habe mich selbst bemitleidet und gleichermaßen beweihräuchert, dass „mehr als ein paar Tage Urlaub dieses Jahr bei mir einfach nicht drin sind“. Und lange Zeit habe ich meine „alles mitnehmen, was geht und nie nein sagen können“-Mentalität am allermeisten an mir geschätzt. 

Internalisierter Kapitalismus und Mythos Chancengleichheit

Wir sind dem Kapitalismus voll auf den Leim gegangen, wir haben ihn so internalisiert, dass wir unseren Wert unterbewusst nur noch daran messen, wie sehr wir ihm nützen. Und für ein kapitalistisches System sind wir tatsächlich nur von Wert, wenn wir hart arbeiten. Arbeit ist zu einem Lifestyle geworden und das wiederum zu einem neoliberalen Narrativ. 

Arbeit ist zu einem Lifestyle geworden.

Einem gefährlichen Narrativ: Denn wir tendieren dazu, berufliche Erfolge auf individuelle Angelegenheiten zu reduzieren und klammern dabei aus, dass nicht alle Menschen unter den gleichen Bedingungen starten – Mythos Chancengleichheit. Der neoliberale Glaubenssatz „jede:r kann es schaffen und muss nur hart genug dafür arbeiten“ ignoriert die unterschiedlichen soziale Faktoren, Diskriminierung(en) und Rollenerwartungen, die beeinflussen, wie frei wir wirklich in der Wahl unserer Lebens- und Arbeitsgestaltung sind. Wir kreieren dabei auch den unrealistischen Anspruch, dass unsere Arbeit Beruf und Berufung zugleich sein muss. Auch der sogenannte „Traumjob“ ist eine kapitalistische Lüge, die zugleich klassistisch ist und auf Menschen herabblicken lässt, die hauptsächlich für Geld arbeiten und ihre Erfüllung außerhalb ihrer Arbeit suchen.

Kapitalismus ist nicht frei

Meine „Hustle Culture“ ist eine frei gewählte, die vieler anderer Menschen ist es nicht. Denn meine „Hustle Culture“ ist nicht dem Kampf um meine Existenz geschuldet, sondern dem Kampf um Geltungsdrang und der Erfüllung meiner eigenen überhöhten Ansprüche – selbst verschuldet, gewissermaßen. Das bedeutet nicht, dass ich niemals über Stress klagen darf, aber ein wenig Reflektion und Demut ist an der ein oder anderen Stelle wohl angebracht. 

Meine Hustle Culture ist eine frei gewählte.

Sich nicht über Arbeit zu definieren ist eine privilegierte Entscheidung. Unsere Arbeit frei bestimmen und bedingen zu können, noch viel mehr. Denn der Kapitalismus ist nicht frei, besonders nicht für die Milliarden von Menschen, die unter Einsatz ihrer Körper, Gesundheit und Lebenszeit ihr (Über-)Leben in den Dienst weniger Privilegierter stellen müssen. Die in ausbeuterischen Bedingungen Wert schöpfen sollen und dabei ihren „Hustle“ nicht stolz auf Social Media präsentieren.  

Kein Stress mit dem Stress

Wie umgehen mit all dem? Ich könnte jetzt diverse Maßnahmen aufzählen, die akuten Stress reduzieren sollen, Yoga, Meditation, Atemübungen, you know them all. Kein Stress mit dem Stress und so. Einige diese Maßnahmen habe ich (kein Witz!) in Workshops gelernt, die uns beibringen sollen, wie wir besser mit Stress umgehen können – und dabei aber nicht hinterfragen, wodurch er entsteht. Die uns – ganz böse antikapitalistisch ausgedrückt – vor akuten Burnouts bewahren sollen, damit wir so lange wie möglich eine effiziente Arbeitskraft bleiben. 

Stressreduktion ist lediglich Symptombekämpfung.

Dass wir damit lediglich Symptombekämpfung betreiben, darüber haben wir nie gesprochen. Denn langfristig müssten ein Umdenken und ein Lebenswandel her – und dies anzustreben ist nur Menschen vorbehalten, die sich das leisten können. 

Am Ende ist es das System 

Das war es also? Mehr können wir nicht tun? Ich fürchte, am Ende ist es, wie so oft das System. Ein System, das wir nicht aus eigener Kraft verändern können. Und daher bleibt uns nur der Versuch, unseren eigenen Mikrokosmos in einer Art und Weise zu gestalten, die es uns erlaubt, uns von kapitalistischen und neoliberalen Gedankenkonstrukten so frei zu machen wie möglich. Ich glaube, der wirkmächtigste Weg, das zu tun, ist, unseren Mikrokosmos mit Menschen zu füllen, die unser „Sein“ und unser „Tun“ losgelöst voneinander wahrnehmen und schätzen können.

Ich habe viele wunderbare Menschen in meinem Leben, die mir regelmäßig meine ungesunden Glaubenssätze spiegeln. Die mir Nachrichten schicken wie „Pass auf, dass du dich heute nicht überarbeitest“ oder mich fragen „Hast du heute schon eine Pause gemacht?“.
Die mich in meinem Tun unterstützen, aber vor allem Dinge an mir schätzen, die nichts mit dem zu tun haben, was ich leiste. Und die mich das wissen lassen, immer wieder. 

Was wir tun, macht nur einen kleinen Teil dessen, was wir sind, aus.

Was wir tun, macht nur einen kleinen Teil dessen, was wir sind, aus. Und in einer Welt, in der unser Wert von unserer Produktivität abzuhängen scheint, ist es ein radikaler und selbstliebender Akt, diesen nicht in dem, was wir tun, sondern in dem, wer wir sind, zu finden. „Du bist nicht, was du an anderen leistest”, hat mir eine liebe Freundin neulich mitgegeben und das ist es, was ich verinnerlichen möchte. 

Disclaimer: In meiner Arbeit als Redakteurin für „im gegenteil“ habe ich das große Glück, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die die “Hustle Culture” genauso ablehnen wie ich, die meine Grenzen respektieren und die mich an Pausen und ein freies Wochenende erinnern. Ein solches Arbeitsumfeld zu haben, ist ein absolutes Privileg, das ich jedem Menschen wünschen würde. Die Realität sieht aber leider anders aus. 

Headerfoto: Karolina Grabowska (Kategorie-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür!

Amelie Fischer (sie/ihr) sieht das Politische in den ganz großen und den ganz kleinen Dingen. Sie spricht und schreibt am liebsten über globale Ungerechtigkeiten, Machtstrukturen, intersektionalen Feminismus und die Liebe, immer die Liebe. Um ein wenig Leichtigkeit in den Weltschmerz zu bringen, den sie oft fühlt, liest sie für ihr Leben gerne Romance Novels. Aber nur zu Recherchezwecken, versteht sich! Denn auch die Liebe ist höchstpolitisch. Mehr von Amelie gibt es auf Instagram.

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