Wenn es gut läuft, kennen wir unseren eigenen Wert. Wir wissen, dass wir liebenswerte, lustige und intelligente Menschen sind, tolle Freund:innen, gute Zuhörer:innen und vielleicht sogar echte Spaßbringer:innen im Leben anderer Menschen. In der Theorie ist uns unser Selbstwert bekannt. Doch in der Praxis scheitern wir nur allzu oft daran, uns diesen in den Situationen, in denen es besonders darauf ankommt, bewusst zu machen.
Wir möchten, dass andere uns schätzen, mögen – vielleicht sogar lieben.
Wir möchten nicht nur selbst unseren Wert kennen. Wir möchten, dass dieser auch von anderen Menschen anerkannt wird. Wir möchten, dass sie uns schätzen, dass sie uns mögen – vielleicht sogar, dass sie uns lieben. Doch das tun nicht alle Menschen. Und wenn unter denen, die es nicht tun, auch ein Mensch ist, der für uns eine gewisse Bedeutung hat, ist das Dilemma schon nahezu nicht mehr abzuwenden.
Enttäuschungen
Wir treffen jemanden, lernen ihn kennen, verbringen Zeit mit ihm. Wir entwickeln den berühmten Crush. Und dieser scheint nur zu oft umso größere Ausmaße anzunehmen, je mehr uns unser Gegenüber vermittelt, dass es diesen Crush nicht erwidert. Wieder und wieder werden wir enttäuscht. Respektlos behandelt. Es ist vollkommen eindeutig, dass der Mensch in uns keinen großen Wert sieht. Er untergräbt ihn kontinuierlich – und wir?
Wir lassen es zu. Immer und immer wieder.
Wir lassen es zu. Immer und immer wieder. Doch nicht nur das. Wir lassen es nicht nur zu, sondern wir versuchen, mit aller Kraft und jeder möglichen Anstrengung, ihn von unserem Wert zu überzeugen.
Überzeugungsversuche
Wir möchten ihn so sehr davon überzeugen, dass wir einen unverzichtbaren Mehrwert für sein Leben darstellen würden. Nach der hundertsten Suff-Nachricht, auf die natürlich keine Antwort erfolgt ist, können wir unser Gesicht im Spiegel kaum noch ertragen. Doch es wird nicht lange dauern, bis wir es wieder versuchen. Bis wir einen neuen Versuch unternehmen, uns zu präsentieren. Alles dafür tun, zu zeigen, was für wundervolle Menschen wir sind und wie sehr wir den anderen schätzen.
Wir können unser Gesicht im Spiegel kaum noch ertragen.
Auch, wenn wir uns dabei kaum noch wieder erkennen – in den Momenten, in denen die Sehnsucht und das Verlangen nach dem anderen so groß ist, schaltet sich unser Verstand aus. Besonders, wenn es dann tatsächlich doch ab und zu zu den Momenten kommt, die wir uns so sehr wünschen. Manchmal erreichen wir sogar unser Ziel, Zeit mit demjenigen zu verbringen. Doch die Wege, auf denen das Ziel erreicht wird, wirken wie Treibsand und ziehen uns immer weiter herunter.
Fremdgesteuert
Wir sind wie fremdgesteuert. Tunnelblick auf denjenigen, der blind für all das Potential zu sein scheint, welches diese Verbindung verbirgt. Mit jeder respektlosen Geste, mit jedem inakzeptablen Verhalten, mit jeder neuen Enttäuschung steigt unsere Verzweiflung. Auch, wenn wir uns schwören, dass es nun wirklich das allerletzte Mal war, dass wir es versuchen – die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass diese Weisheit nicht nachhaltig in unserem Kopf gespeichert werden kann.
Wir schwören uns, dass es nun wirklich das allerletzte Mal war.
Der Mensch, den wir so sehr in unserem Leben haben wollen, er versaut es. Und wir möchten alles dafür tun ihn daran zu hindern. Wir möchten ihm bewusst machen, dass er einen riesigen Fehler begeht, wenn er die Sache versaut. Doch während unser Tunnelblick ausschließlich auf ihn und unser Bestreben, unseren Wert zu beweisen, gerichtet ist, sitzt er pfeifend auf der Parkbank und dreht seinen Kopf in alle erdenklichen Richtung – außer in unsere.
Die Perspektive des anderen übernehmen
Die Gefahr daran? Auch, wenn wir uns ursprünglich unseres Selbstwertes so sehr bewusst waren: Im Laufe der Zeit übernehmen wir die Perspektive, die der Mensch, den wir doch so sehr in unserem Leben halten wollen, auf uns hat. Er sieht uns als bedürftige, unsichere Person, die auf ihn angewiesen ist. Er steht auf dem Podest und blickt auf uns herab. Den geringen Wert, den der Mensch uns so zuschreibt, schreiben wir dann nur allzu oft uns selbst ebenfalls zu. Und dann? Dann fühlen wir uns einfach nur miserabel und möchten auf dem Küchenboden liegen und heulen.
Wir haben die Macht, unseren Wert auch der anderen Person zu demonstrieren.
Dabei haben wir doch tatsächlich die Macht, unseren Wert auch der anderen Person zu demonstrieren. Jedoch keinesfalls dadurch, dass wir betteln, dass wir sämtliche Verhaltensweisen, die uns normalerweise den Kopf über die Kloschüssel halten lassen würden, akzeptieren und immer wieder versuchen, ihn doch noch davon zu überzeugen, dass wir doch eigentlich ganz anders sind. Ihn mit allen Mitteln dazu zu bringen, uns wenigstens ein bisschen seiner Zeit zu schenken. Genau das Gegenteil ist der Fall.
Unseren Wert demonstrieren
Unseren Wert demonstrieren wir, indem wir Grenzen setzen. Indem wir uns bewusst werden, dass wir nichts beweisen müssen. Indem wir niemanden wollen, der uns nicht will. Indem wir es den anderen versauen lassen. Denn: Es ist immer nur sein Verlust. Niemals unserer.
Du hast nichts zu beweisen.
Wir verlieren nichts Wertvolles. Wir verzichten lediglich auf einen Menschen in unserem Leben, der keinerlei Interesse daran hat, uns einen Platz in seinem einzuräumen. Für den wir höchstens nur eine Notlösung darstellen, wenn gerade nichts Besseres in Reichweite ist. Dessen Ego wir so sehr pushen, indem wir ihn zu dem König auserkoren, obwohl er lediglich die Narrenmütze verdient hätte.
Lass sie es versauen. Du hast nichts zu beweisen.
Headerfoto: Darina Belonogova (Kategorie-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür!