Der Begriff toxic positivity bezeichnet ein Problem, bei dem Menschen versuchen, aus jeder noch so negativen Situation einen positiven Nutzen zu ziehen. Doch ist das wirklich möglich? Oder ist es nicht vielleicht sogar ungesund? Wie toxic positivity uns um unsere echten Gefühle betrügt.
Good Vibes only, Spread Love, Stay positive – das sind Dogmen, die wir alle schon einmal gehört haben. Und die zumindest mir in ihrer Häufung auf Insta, Facebook und sogar inzwischen bei LinkedIn echt hart auf die Nerven gehen. Momentan mehr denn je. Mal im Ernst: Die Corona-Pandemie ist im dritten Jahr bei allem, was wir tun, mit dabei und jetzt Hat Putin auch noch völlig grundlos einen Krieg vom Zaun gebrochen.
Wäre ich eine grundpositive Person, dann könnte mir noch so sehr die Sonne aus dem Allerwertesten scheinen: Irgendwann ist mit Sonnenschein auch mal Schluss und es kommt schon auch der eine oder andere negative Gedanke in meinen Gedankenkreis geballert. (Achtung, Untertreibung)
Mit Beginn des ersten Lockdowns fingen auf einmal alle an, ausufernde Selbstoptimierung zu betreiben, das Positive an der neu gewonnenen “Me-Time” zu sehen. Denn man könne ja eh nichts ändern, man sollte einfach das Beste draus machen. Und jede:r, der/die da nicht mitspielen konnte, der/die zog einen runter, was ja überhaupt nicht geil ist für die Vibes und so.
Ich bin mit Sicherheit nicht der positivste Mensch auf Erden. Ich hasse mit großer Leidenschaft oft genug die Welt und die Menschen in ihr.
Jetzt ist es so: Ich bin mit Sicherheit nicht der positivste Mensch auf Erden. Ich hasse mit großer Leidenschaft oft genug die Welt und die Menschen in ihr. Das muss niemanden beunruhigen, so bin ich einfach eben. Genauso oft habe ich aber auch richtig Bock auf das Leben und finde die Welt richtig toll und bin dankbar für alles und jeden.
Und diese Abwechslung finde ich menschlich und gesund! Nicht jeder Mensch kann immer super drauf sein, das blühende Leben – endless joy, immer aus Zitrone Limonade machen oder eben nach dem Tequila fragen. Denn manchmal, und bei diversen Leuten vermutlich auch mal öfter, ist das Leben richtig kacke und dieser Schicksal ein richtiges Arschloch. Da darf man schon mal mies drauf sein, finde ich.
Toxic Positivity als gefährlicher Trend
So sehr ich jeder Person ihre gute Laune auch gönne, ist diese totale Negierung von “unguten Gefühlen” und/oder schlechter Laune, die sich seit ein paar Jahren in meinem Instagramfeed Bahn bricht, ein Trend, den ich als gefährlich erachte.
Wenn man zum Beispiel einen Job nicht bekommt, obwohl man ihn dringend bräuchte, um die Miete zu bezahlen, dann sind ungute Gefühle auch durchaus verständlich.
Ich meine, natürlich bringen einen Gefühle wie Wut und Trauer auch nicht immer weiter und sie ändern auch nichts daran, dass man den gewünschten Job nicht bekommen hat oder UPS das erwartete Paket zum dritten Mal in Folge wieder nicht zugestellt hat. Aber wenn man zum Beispiel einen geliebten Menschen verliert oder den Job nicht bekommt, obwohl man ihn dringend bräuchte, um die Miete zu bezahlen, dann sind ungute Gefühle auch durchaus verständlich. Sie sind Teil eines Verarbeitungsprozesses, der im Rahmen einer toxic positivity nicht in Gang gebracht wird.
Wenn ich schlechte Gefühle immer nur von mir wegschiebe, weil sie nicht in mein übergeordnetes happy-go-lucky-Lebenskonzept passen, werden sie sich irgendwann mit einem lauten Knall entladen – und mich im Zweifelsfall richtig krank machen. Und so kommt das toxic in toxic positivity.
Auch die zeitliche Begrenzung von schlechten Gefühlen finde ich schwierig: Wenn dir etwas passiert, was dich wütend macht, dann gib dir 5 Minuten Zeit, die Wut zu spüren. Danach legst du sie ab und machst eben weiter. Das halte ich für genauso falsch. Denn, wenn man mal ehrlich zu sich selbst ist, dann sind 5 Minuten – oder auch 10 oder 15 – manchmal eben nicht genug, um mit einem Thema abzuschließen.
Anhaltende Glücksgefühle sind in unserer Gesellschaft nur allzu gerne gesehen – dabei würde mir jeder Psychologe zustimmen, dass es ohne Unglück eben auch kein Glück gibt.
Das spannende daran ist, dass dasselbe anscheinend nicht für Glück gilt: “Du hast den Job bekommen? Super, dann freu dich doch 5 Minuten darüber und dann machst du aber bitte normal weiter.” Anhaltende Glücksgefühle sind in unserer Gesellschaft nur allzu gerne gesehen – dabei würde mir jede:r Psycholog:in zustimmen, dass es ohne Unglück eben auch kein Glück gibt. Und wenn ein Mensch nie unglücklich ist – woher soll er dann wissen, wann er glücklich ist?
Für ein authentisches Gefühlsleben
Klar fühlt sich jede Person lieber gut als schlecht, aber grundsätzlich sollten für alle Gefühle in unserer Gesellschaft ausreichend Platz sein. Und es sollte auch möglich sein, über seine Ängste und Sorgen öffentlich zu sprechen, ohne dass einem gleich der Stecker gezogen wird, weil negative Vibes halt einfach nicht erwünscht sind. Das ist toxic positivity: “Du musst dich gut fühlen, sonst will keine:r was mit dir zu tun haben.”
Du musst dich gut fühlen, sonst will keine:r was mit dir zu tun haben.
Versteht mich nicht falsch, dauerhafte Traurigkeit und übermäßige Gefühle der Wut sind genauso schädlich wie toxic positivity. In solchen Fällen wäre eine Therapie anzuraten, bei der man den Kernauslösern der Wut- und Traurigkeits-Gefühle auf den Grund gehen kann. Ebenso würde ich aber auch jedem, der ständig negative Gefühle beiseite schiebt, eine Therapie ans Herz legen. Beides kann nicht gesund sein und hat mit Sicherheit irgendwo eine Wurzel.
Um zum Schluss noch einmal in die Schublade der Kalendersprüche zu greifen: Gefühle sind da, um gefühlt zu werden. Alle von ihnen – auch die Negativen. Denn wer sich nicht ab und zu auch mal schlecht fühlt, der hat keinen Grund, sich weiterzuentwickeln. Und wer sich nicht weiterentwickelt – der kann halt auch nicht wachsen.
Headerfoto: Dimitry Zub (Kategorie-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür!